Gibt es ein gutes Leben im schlechten?
JA

SUCHE Finanzkrise, Politikkrise, Armut, Kriege, Rassismus, Umweltkatastrophen, Gewalt, Konkurrenz: Bei so viel schlechten Aussichten fällt es schwer, das Positive zu sehen

Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt.

Immer ab Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz.

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Ursula Sladek, 65, taz-Genossin, gründete atomstromfreie Elektrizitätswerke

Bei aller sozialen Ungerechtigkeit, bei allen ökologischen Problemen, bei allem Schlechten in der Welt kann sich jeder Einzelne hier bei uns für ein gutes Leben entscheiden. Gut heißt für mich, sich für ein gutes Leben aller einzusetzen: im persönlichen Umfeld, lokal, regional, global. Es macht keinen Sinn, über die Schlechtigkeit der Welt zu philosophieren, man muss die Ärmel hochkrempeln und etwas ändern. Ziemlich naiv, mag manch einer denken. Aber soziale und ökologische Bewegungen zeigen, wie Veränderung geht: von unten, durch jeden Einzelnen, der – wenn er den Willen hat – auch die Kraft besitzt, zusammen mit Gleichgesinnten etwas zum Besseren zu bewegen. In diesem Sinne Gegenwart und Zukunft aktiv mitzugestalten – das ist für mich ein „gutes Leben“, das mir hilft, die Schrecklichkeiten der Welt zu ertragen.

Thomas Maurenbrecher, 71, taz-Genosse, ist Soziologe und freier Autor in Berlin

Das gute Leben ist das Grundthema jeglicher Ethik. Es geht dabei darum, welche Werte ich wähle und wie ich mein Handeln danach einrichte. Für den Ethiker gibt es kein falsches Leben, nur ein schlechtes – eins im Wertewirrwarr? Heute, im globalisierten Neoliberalismus, gilt es, sich zu fragen, was ich wirklich brauche und was nicht. Der ungebremste Wachstumswahn sieht den Menschen nur als Produzenten oder Konsumenten – nicht aber als Person. Das Gemurkse der etablierten Politik in der Finanzkrise als solches zu durchschauen, ist wichtig. Und öffentlich dagegen zu protestieren, wenn es dran ist. Wichtig ist, beharrlich zu sein, aufgrund von Niederlagen zu spüren, wo die eigenen Fähigkeiten und die Grenzen liegen. Das persönliche Potenzial unabhängig von aller Professionalität. Und wichtig ist, sich in Freundschaft und Liebe zu akzeptieren. Um die Sicherheit in einer unverbrüchlichen Lebenswelt geht es. Und schließlich: Was zum guten Leben neben einem Stück Aufsässigkeit und Selbstdistanz gehört: Vertrauen. Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson nennt es Urvertrauen.

Martin Krempel, 24, studiert Soziologie. Er hat die sonntaz-Frage auf taz.de kommentiert

Es findet sich immer dann Gutes im Schlechten, wenn man sich einmischt und an der Einrichtung des Gemeinwesens beteiligt. Dazu benötigt es die Fähigkeit, begründeten Dissens artikulieren zu können – und es braucht den Willen, diesen verallgemeinern zu wollen. In diesem Sinne sollte es nicht um ein moralisches Aufbegehren, sondern vielmehr um eine linke, politische Intervention gehen. So kann Adornos wohl bekannteste Aussage, dass es „kein richtiges Leben im falschen“ gibt, verteidigt werden.

Ecco Meineke, 50, taz-Genosse, Kabarettist und laut eigenem Ermessen Optimist

Der Optimist beantwortet die Frage mit Ja, er geht davon aus, dass das Leben besser wird. Vermutlich zielt die Frage darauf ab: Kann man glücklich sein in Systemen, die nicht guttun? Wer immer Widersprüchlichkeiten spürt und nicht akzeptiert, muss sagen: Nein. Geht er daran, die Situation zu verändern, lebt er das Gute bereits im Schlechten.

Nein

Hans Nutzinger, 66, taz-Genosse und Professor für Unternehmenstheorie in Kassel

Das gute Leben im Sinne einer eindeutigen Begriffsbestimmung kann es nicht geben – das wäre kein gutes Leben mehr, sondern eine Bevormundung des Einzelnen. Man kann aber auch nicht davon ausgehen, dass die Menschen sich ohnehin vernunftgemäß für ein Leben entscheiden, das sie für gut halten und das demnach von allen anderen so gesehen werden muss. Das wäre beliebig und reines Zweckdenken. Ein gutes Leben muss zugleich individuell und gemeinschaftlich gelebt werden; es sollte anstreben, die Verwirklichung eigener Lebensziele mit den Entfaltungsmöglichkeiten der Menschen im engeren und weiteren Umfeld zu verbinden. Da ist es sinnvoll, im eigenen Lebensbereich zu beginnen, aber so, dass auch möglichst viele Optionen für andere offen gehalten werden. Das entschärft den abstrakt unlösbaren Konflikt zwischen „individuell gutem“ und „kollektiv schlechtem“ Leben. Damit wird nicht für ein Leben der Beliebigkeit und der Entschlusslosigkeit, das schwerlich „gut“ genannt werden könnte, eingetreten, sondern dafür, notwendige Entscheidungen so zu treffen, dass sie viele Optionen für andere Menschen heute und in der Zukunft eröffnen. Vernünftige Sorge für sich, respektvolle Fürsorge für andere und bedachtsame Vorsorge für die Zukunft wären die drei Marksteine für ein gelingendes gutes Leben, seine Grundmaxime heißt Verantwortung.

Isabella Heuser, 58, Neurologin und Psychologin in Berlin, spricht beim tazlab

Spontan sage ich: Nein! Dabei beschränke ich mich als Ärztin und Psychologin auf die Überlegung, ob etwas Schlechtes – ein körperliches oder seelisches Leiden, eine Erkrankung – auch positive Aspekte haben könnte. Was könnte gut sein an einem Schlaganfall, einem Herzinfarkt, einer Krebserkrankung, an einer Depression? Ist es Selbsterkenntnis? Persönlichkeitsreifung? Das Wissen, wer die wahren Freunde, was die kleinen Freuden sind? Dankbarkeit und Demut oder gar mehr Mut, Übermut? Diese Gewinne aus überstandenem oder bestehendem Leiden werden häufig genannt. Dennoch möchte wohl niemand – dies hat zumindest eine nichtrepräsentative Umfrage unter Mitarbeitern und Patienten der Charité-Klinik ergeben – an einer körperlichen oder seelischen Erkrankung leiden. Das Streben nach einem in subjektiver Ansicht zufriedenem Leben, die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und das Vermögen, diese und die eigene Umwelt positiv zu gestalten, werden am besten in Gesundheit gelingen, so die Meinung der meisten Befragten. Es zeugt von der großen psychischen Anpassungsfähigkeit des Menschen, sich selbst und andere nach persönlichen Katastrophen vom Guten im Schlechten überzeugen zu können. Es ist tröstlich, wenn im Leiden auch Sinnvolles entdeckt werden kann. Dieses „Rationalisieren“ ist eine geschickte Strategie der Seele, besser: unseres Gehirns. Und damit etwas Gutes!

Heike Schwarz, 37, ist Deutsch-Südafrikanerin, Übersetzerin und taz-Genossin

No way gibt es das im (schl)echten Leben. Behaupte ich als Zeitzeugin des wohl offensichtlichsten Elends, das auf keinem anderen Kontinent der Erde so weit verbreitet ist. Im südafrikanischen Guguletu findet auf einem Gebiet von sechs Quadratkilometern an jedem dritten Tag ein Mord statt. Im Hier und Jetzt der Parallelgesellschaften der Slums herrschen Demütigung, Gewalt und Angst, fast restlos.