Ukraine, Moldau und Georgien: Der Weg in die EU ist noch weit

Foto: Der Tanz um die EU: Georgien, die Republik Moldau und die Ukraine setzen große Hoffnungen in eine Mitgliedschaft in der Europäischen UnionIllustration: Manuel Fazzini 

Nehmen und Geben

Viele Ukrai­ne­r:in­nen glauben, dass von einem EU-Beitritt ihres Landes auch Europa profitieren wird

Von Anastasia Simenova, Odessa

In den vergangenen Monaten hat die Intensität der Angriffe auf die Region Odessa zugenommen. Fast täglich greift Russland die Stadt mit Raketen und Shahed-136/131-Drohnen an. Die Shahed-Angriffe finden abends oder nachts statt und können jeweils bis zu vier Stunden dauern. Die Luftverteidigung von Odessa kann nicht alles abfangen.

Der gesamte Biorhythmus und der Tagesablauf geraten aus dem Takt, wenn man nachts in einem Schutzraum oder auf dem Flur sitzen muss. Mit einem Telefon in der Hand verfolgen wir alles, was am Himmel über Odessa passiert.

In Odessa gehen die Kinder weiter zur Schule. Cafés, Restaurants, und Kinos sind geöffnet, in Sportvereinen wird trainiert. Auch Konzerte, Wettbewerbe und Konferenzen finden statt. Aber jederzeit können Menschen von einer russischen Rakete oder Drohne getötet werden. Wenn eine ballistische Rakete im Anflug ist, hat man nur zwei bis drei Minuten Zeit, um in Deckung zu gehen oder in den Korridor zu rennen. Um mehr Leben zu retten, brauchen wir mehr Waffen. Wir alle träumen jetzt nur noch von einem Sieg in diesem Krieg. Viele Ukrai­ne­r:in­nen verbinden den Weg zu diesem Sieg mit dem EU-Beitritt.

Alexei ist Soldat. Im März 2022 meldete er sich freiwillig für die ukrainischen Streitkräfte. Davor arbeitete er beim Fernsehen. Wir treffen uns in einem Café im Zentrum von Odessa. Die Sonne scheint, in der Nähe zischt eine Kaffeemaschine, Menschen gehen spazieren – hier scheint der Krieg weit weg. Aber nur bis zum nächsten Luftangriff.

Was denkt Alexei über den EU-Beitritt? Die Ukraine habe ihn verdient, denn das Land sei territorial und mental bereits ein Teil Europas. Die Ukraine könne Europa viel geben. „Ich spreche von Reformen und Innovationen im digitalen Bereich. Was das militärisch-industrielle Potenzial angeht, verfügt die Ukraine über enorme Erfahrung in der Kriegsführung. Wir müssen uns vereinen“, sagt Alexei. Wenn die Ukraine Mitglied der EU werde, sei dies nicht nur für sein Land, sondern auch für Europa eine Garantie für den Frieden. Alexei betrachtet die Menschen, die gerade einen Kaffee trinken. „Jetzt im Krieg fühle ich Wut und Groll. Ich versuche zu überleben und etwas Nützliches zu tun. Ich habe mich an den Krieg gewöhnt. Er ist ein Teil meines Lebens geworden und wird das für immer bleiben.“

Der Gorki-Park in Odessa ist an diesem Sonntag gut besucht. Hier werden Lebensmittel an Binnenflüchtlinge verteilt. An einem der Tische steht eine rothaarige Frau – sie heißt Oksana und ist ehrenamtlich tätig. Auch Oksana musste fliehen. „Unser Haus liegt in dem Teil der Region Saporischschja, der von russischen Truppen besetzt war. Wir haben fast sechs Monate unter Besatzung gelebt. Es wurde von Tag zu Tag gefährlicher und unmöglich, zur Arbeit zu gehen, ohne mit den Besatzern zusammenzuarbeiten. Razzien in Wohngebäuden, Beschuss, Festnahmen, absolute Schutzlosigkeit.“

Oksanas Familie musste Ende des Sommers 2022 das besetzte Gebiet verlassen. Das dauerte vier Tage – wegen Kontrollen, Durchsuchungen, Beschuss, Warteschlangen und all das bei 40 Grad Hitze.

„Wir wissen, dass in der Ukraine nicht alles perfekt ist, aber wir wollen wachsen. Auch an internationalen Behörden kann man arbeiten“, sagt sie. Organisationen wie die IAEA oder das Rote Kreuz müssten reorganisiert werden. Oksana gewöhnt sich an ihr neues Leben. „Ich habe einen Kurs als Stadtführerin gemacht, verbessere mein Englisch und arbeite ehrenamtlich. Man darf nicht aufgeben“, sagt sie.

Mit oder ohne Transnistrien?

Der eingefrorene Konflikt um die abtrünnige Region erschwert Moldaus Integrationsprozess in die EU

Vom Irina Tabaranu, Chișinău

Die Republik Moldau strebt eine EU-Mitgliedschaft bis 2030 an, nachdem die europäischen Staats- und Regierungschefs Ende vergangenen Jahres beschlossen haben, Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Aktuelle Meinungsumfragen in Moldau zeigen, dass bei einem Referendum über eine EU-Mitgliedschaft 56 Prozent dafür und 25 Prozent dagegen stimmen wollen. Der Rest ist unentschieden oder wird nicht teilnehmen. Die Stimmung im Land ist günstig für eine europäische Integration, aber der Prozess wird zweifellos schwierig sein.

Was ihn erheblich erschwert, ist die vom Kreml kontrollierte Region Transnistrien.

Die EU-Mitgliedschaft ist für Moldau eine einzigartige Chance sowohl für Entwicklung und Stabilität als auch zur Lösung seiner territorialen Probleme. Allerdings bleibt in dieser Gleichung das Schicksal Transnistriens entlang der Ostgrenze Moldaus zur Ukraine eine Herausforderung.

Diese Region umfasst etwa elf Prozent des Territoriums. International ist Transnistrien als Teil Moldaus anerkannt. 1992 hat Chișinău jedoch de facto die Kontrolle über dieses Gebiet verloren, nachdem die russische Armee in einen Konflikt zwischen moldauischen Truppen und dem Separatistenregime eingegriffen hatte. Diesen Krieg hatte Russland provoziert, um seinen Einfluss in Moldau aufrechtzuerhalten.

Russland hat seine Truppen nie abgezogen, obwohl Moldau darauf besteht, dass sie zusammen mit Munition eines Depots aus der Sowjetzeit, das als das größte in ganz Osteuropa gilt, evakuiert werden.

Hochrangige EU-Vertreter haben versichert, dass der EU-Beitritt Moldaus nicht von der Beilegung des Transnistrienkonflikts abhängig sei. Deshalb haben die moldauischen Behörden dem Szenario eines EU-Beitritts des Landes in „zwei Schritten“ zugestimmt, sollte Transnistrien bis 2030 nicht wieder in den wirtschaftlichen und rechtlichen Raum Moldaus integriert werden können.

Wenn der territoriale Konflikt jedoch weiter ungelöst bleibt, sieht es für Moldau schlecht aus. Denn die europäische Gemeinschaft wird ihre Türen kaum für einen Staat öffnen, der nicht nur soziale und wirtschaftliche Probleme mitbringt, sondern auch ein trojanisches Pferd in Form von Soldaten eines Staates, der einen Krieg auf dem europäischen Kontinent begonnen hat. Die Rede ist hier von der Russischen Föderation.

Derzeit sind rund 1.700 Soldaten, die zwei russischen Militärkontingenten angehören, auf dem Territorium Moldaus stationiert. Eins davon, eine operative Einsatzgruppe, ist illegal. Das zweite Kontingent hat einen legalen Status, auch wenn Teile der moldauischen Gesellschaft dies vehement bestreiten: die sogenannten Friedenstruppen. Letztere gehen auf das Jahr 1992 zurück, nachdem ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Moldau und Russland geschlossen worden war.

Die Friedenstruppen verfügen über 15 stationäre Posten, die sich sowohl auf der von Chişinău kontrollierten Seite als auch auf der Seite befinden, die Moldau nicht kontrolliert.

Gleichzeitig verläuft die Verwaltungslinie, die die Parteien trennt, nicht genau entlang des Flusses Dnjestr.

Selbst wenn man seiner Fantasie freien Lauf lässt, ist es schwierig, sich eine hypothetische EU-Grenze vorzustellen, die Transnistrien außen vor lässt. Das wäre eine Art Schwebezustand im Hinblick auf die Ukraine, die ebenfalls in die EU strebt. Ich möchte daran glauben, dass vor allem die strategischen Köpfe der Union daran arbeiten, diese Gleichung zu lösen. Sie enthält wirklich viele Unbekannte – einschließlich der Frage, wie Russland sich künftig verhalten wird.

„Nein zu Russland. Ja zu Europa!“

Georgien strebt schon lange nach Europa. Ein „Agentengesetz“ stellt diese Perspektive jetzt erneut infrage

Von Tornike Mandaria, Tbilissi

„Ja zu Europa. Nein zu Russland!“ So lautet der Slogan einer neuen Welle von Protesten in der georgischen Hauptstadt Tbilissi gegen das „Agentengesetz“, auch „Russland-Gesetz“ genannt, das jahrhundertealte Bestrebungen der Georgier, als Europäer anerkannt zu werden, in Frage stellt.

„Wenn wir uns selbst gehören, werden wir nicht im Stich gelassen. Es lebe das freie Georgien und seine Union mit Europa!“ Diese Worte in einer Rede von Noe Schordania, des ersten Premierministers der Georgischen Demokratischen Republik im Jahr 1920, spiegeln den Wunsch der jungen Republik am Rande Europas wider, Verbündete im Westen zu suchen. Aber leider kam es anders. Die georgische Demokratie wurde 1921 vom sowjetischen Imperium geschluckt.

Ein Jahrhundert später blicken die Georgier immer noch in Richtung Westen. Für viele ist Europa ihre Heimat, von der das Schicksal sie jahrhundertelang getrennt hat. Abgesehen von historischen Überlegungen ging Georgien nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion davon aus, dass Fortschritt, Unabhängigkeit und Souveränität nur durch eine Vereinigung mit dem Westen erreicht werden könnten.

In Tbilissi hängen Europaflaggen an Regierungsgebäuden und Cafés. Sie drücken den Wunsch von 80 Prozent der Georgier aus, der EU und der Nato beizutreten. Graffitis mit der Aufschrift „Ehre der Ukraine“ und „Russen, geht nach Hause“, weisen auf eine proukrainische Stimmung in einem Land hin, das selbst ein Opfer Russlands wurde.

2008 wurde Georgien zum ersten Ziel des Kremls. Damals vermied der Westen es, Russland als Aggressor zu bezeichnen. Ja, Moskau hatte einen souveränen Nachbarstaat überfallen, aber dieser ist nicht groß oder wichtig genug, ziemlich weit von Europa entfernt, und der damalige Präsident, Micheil Saakaschwili, scheute nicht vor Provokationen zurück.

Im Zuge der brutalen Großinvasion Moskaus in die Ukraine, die die Sicherheit Europas unmittelbar bedroht, begann der Westen umzudenken. Die Tür, die Ländern, die sich um eine EU-Mitgliedschaft bewerben, lange verschlossen war, öffnete sich.

Trotz scharfer Kritik wegen demokratischer Rückschritte beschloss Brüssel im Dezember 2023, Georgien den Status eines Beitrittskandidaten zu gewähren.

Noch ist es zu früh, um zu beurteilen, wie sich der Kandidatenstatus auf Georgien auswirkt, aber da das Land einem Beitritt näher rückt, hat Brüssel Zuschüsse in Höhe von 1,9 Milliarden Euro für die digitale, Energie- und Verkehrsinfrastruktur zugesagt. Als Kandidat wird Georgien aufgrund seiner vermeintlichen politischen Stabilität und Berechenbarkeit für internationale Unternehmen attraktiver.

Einige schlagen nun jedoch vor, den EU-Beitrittsprozess „einzufrieren“. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine geht die georgische Regierung zunehmend auf Konfrontation gegenüber dem Westen und vertieft die Beziehungen zu Moskau und Peking. Bereits zum zweiten Mal versucht die Regierung, ein Gesetz über „ausländische Agenten“ zu verabschieden. Dieses Gesetz verpflichtet Organisationen, die mehr als 20 Prozent ihrer Mittel aus dem Ausland erhalten, dazu, sich als „Organisation, die die Interessen einer ausländischen Macht vertritt“, zu registrieren.

In Russland hat dieses Gesetz die unabhängigen Medien und die Zivilgesellschaft praktisch zerstört.

Im vergangenen Jahr wurde die Regierung durch Massenproteste, die junge Menschen anführten, dazu gezwungen, das Gesetz fallen zu lassen. Heute geht die Generation Z wieder auf die Straße und wiederholt hartnäckig: „Ja zu Europa. Nein zu Russland!“