Von menschlichen Makeln

SUCHT Manche wollen sterben, für andere gehört der Total-absturz zum Alltag: In einem Nürn-berger Vorort gibt es die einzige Drogentherapie-einrichtung Deutschlands für männliche Muslime. Hier sollen die Betroffenen wieder lernen, ihr Leben ohne Rausch ertragen zu können

Der Träger: Der Nürnberger Drogenhilfeverein „Mudra“ ist Betreiber der Therapieeinrichtung. „Mudra“ wurde 1980 gegründet, zunächst mit fünf Mitarbeitern. Heute arbeiten etwa 60 Personen für die Einrichtung. 1995 wurde dann die spezifische Therapiestätte „Dönüs“ eröffnet, die von den Landesversicherungsanstalten als Fachklinik anerkannt wird.■ Der Anfang: Mit südländischen Süchtigen Tür an Tür zu wohnen wollten zunächst viele der 70 Birnthoner nicht. Es wurde protestiert, einmal sogar Mist vor die Tür gekippt. ■ Die Besserung: 2005 haben die Klienten Adventskränze gebunden, die Dorfbewohner zu einer Weihnachtsfeier eingeladen und Geschenke verteilt. Seitdem gibt es weniger Berührungsängste.

TEXT CIGDEM AKYOL FOTOS REGINA MARIA SUCHY

Das Traumhafteste: Versehentlich spritzte Sinan* sich eine Überdosis Heroin. „Ich habe extra ganz langsam gedrückt, weil ich den Stoff nicht kannte“, sagt er. Dann kippte er um. „Ich bin mit dem Licht verschmolzen und habe Gott gesehen, ich probierte den Geschmack des Todes. Es war gigantisch, es ist einfach nur noch geil“, schwärmt Sinan.

Das Traumatischste: Eine Woche vor der Überdosis erfuhr Sinan, dass ein Freund, mit dem er manchmal das Spritzbesteck teilte, sich mit Hepatitis C infiziert hatte. Dann hörte er noch Gerüchte, der Freund habe auch das HI-Virus. „Ich kann mich genau daran erinnern, so als wäre es gestern“, erzählt er. Die Testergebnisse waren negativ, mit den Drogen aufhören konnte oder wollte er an diesem Punkt trotzdem noch nicht. „Nur die Blackouts haben mich angekotzt.“

Der 31-jährige Sohn türkisch- griechischer Gastarbeiter sagt, seine Kindheit in Unterfranken sei schön gewesen, „aber ich bin genau der geworden, den mein Vater nicht wollte“. Mit 16 rauchte er das erste Mal Haschisch, weil es so cool war. Trotz des täglichen Konsums schaffte er seinen Hauptschulabschluss und beendete eine Lehrer als Maler und Lackierer. Mit 18 nahm Sinan die erste Ecstasy-Pille, „sie war gelb mit einem Delphin drauf“, sagt er träumerisch. Erst wurde das Gift fester Bestandteil des Alltags, irgendwann wurde es der Alltag, er brauchte immer mehr, „um das geile Gefühl festhalten zu können“. Er konsumierte Alkohol, fast täglich Speed, Crystal oder Kokain. Weil der Rausch nicht mehr aufhörte, er nicht mehr schlafen konnte, rauchte, schnupfte und spritzte er Heroin, „um runterzukommen“ – bis zu vier Gramm täglich. Er machte vieles, was ihn zerstörte, nichts, was ihm und seiner Familie guttat. Die Ehe scheiterte, seine Sucht finanziert er mit Dealen und Raub, stahl auch den Goldschmuck seiner Mutter und die Elektrogeräte des Vaters.

Die Wende

Heute, nach mehreren Entgiftungen, ist Sinan manisch-depressiv und wohnt in der Therapieeinrichtung „Dönüs“ (zu Deutsch „Wende“) – der einzigen Therapieeinrichtung für männliche Muslime in ganz Deutschland, gelegen in Birnthon, einem Vorort von Nürnberg, 70 Einwohner im Niemandsland.

Das Haus, ein uriger, stillgelegter Gasthof auf einem kleinen Hügel, wirkt wie aus einem Mittwochsfilm im ZDF. Hierher kommen diejenigen, die Süchtig sind nach Drogen, die einem das Leben erträglicher machen – nach Alkohol, Cannabis und chemischem Zeugs. Die meisten sind Massen- und Mischkonsumenten, kaum einer hängt nur an einer Substanz. Nach Birnthon kommen diejenigen, die körperliche Schmerzen erträglicher finden als seelische. Es kommen die Lebensmüden oder Aggressiven. Viele haben Doppeldiagnosen, psychische Krankheiten sind die Nebenerscheinungen der Sucht. Sie sind alle männlich, haben einen Migrationshintergrund und muslimische Wurzeln. Dies sind die Voraussetzungen, um in dieser bundesweit einzigartigen Fachklinik aufgenommen zu werden und von den überwiegend muttersprachlichen Mitarbeitern betreut zu werden. Die Alltagssprache ist Deutsch, die Muttersprache der Klienten – so werden die Patienten hier genannt – spielt jedoch im therapeutischen Alltag eine wichtige Rolle. Hier muss keiner dass Kopftuch seiner Mutter rechtfertigen, wird niemand als Fanatiker betrachtet, weil er auf Arabisch betet, oder erklären, wer „Allah“ ist. Deswegen hat sich auch Sinan hierher begeben, „weil ich hier besser verstanden werde“. Er muss sich damit abfinden, dass andere seine Abwehr durchbrechen wollen, das ist die Aufgabe der Ärzte, Psycho-, Ergo- und Körpertherapeuten.

Warum ist eine Therapieeinrichtung für muslimische Migranten, insbesondere Männer, überhaupt erforderlich? Weil sie mit Schwierigkeiten konfrontiert sind, welche die Mehrheitsgesellschaft seltener betreffen werden: mit Diskriminierung, verminderten Bildungschancen, manchmal kommen ein unsicherer ausländerrechtlicher Status sowie schlechte Lebensverhältnisse hinzu, erklärt Levent Civan, Sozialpädagoge und Leiter der Einrichtung, die Notwendigkeit von „Dönüs“. Außerdem sei die Koabhängigkeit bei Muslimen viel größer, weil Eltern ihre Söhne viel stärker verhätscheln würden. Bevor sich jemand eingesteht: „Ja, ich bin süchtig und brauche Hilfe“, vergehen in der Regel mehrere Jahre oder Jahrzehnte. „Der Leidensweg von muslimischen Männern sei meist länger, die Scham noch viel höher, erklärt Civan. Denn die Süchtigen wissen, ihre Eltern sind hierhin gekommen, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen – ein Drogenabhängiger passt da nicht ins Bild. Deswegen ist Sinans Vater auch nicht zur Familientherapie erschienen. Er schämt sich für seinen Sohn.

Für alles gibt es Regeln

21 Therapieplätze gibt es hier, der Speiseplan orientiert sich an der orientalischen Küche, islamische Festtage werden bei Interesse begangen, türkische Zeitungen und türkisches Fernsehen stehen zur Verfügung. In der Küche steht ein Samowar, es hängen orientalische Teppiche an den Wänden, wer will, kann hier Sazspielen lernen. Es ist kein Gefängnis, jeder kann sich frei bewegen und jederzeit gehen. Wer sich für das Bleiben entscheidet, muss sich einem festen Ablauf fügen: Die Therapie dauert acht Monate und ist in mehrere Abschnitte gegliedert. In der sechswöchigen Orientierungsphase herrscht eine Kontaktsperre nach außen, es werden individuelle Therapieziele und Behandlungspläne erarbeitet. In der zweiten Phase dürfen die Klienten wieder Kontakt zu ihren Angehörigen und Freunden aufnehmen, nach Nürnberg fahren und an den Wochenenden nach Hause. Während der ganzen Zeit müssen die Männer an Gruppen- und Einzelgesprächen teilnehmen, Sport machen und an der Arbeitstherapie in der Küche, in der Wäscherei, in der Schreinerei oder im Garten teilnehmen. Zusätzlich werden Deutsch- und politische Bildungskurse angeboten. Für alles gibt es Regeln, wer nicht mitmacht, muss gehen. Wer es schafft, beginnt in der 26. Woche mit der „Adaptionsphase“, die Klienten verlassen die Einrichtung in Birnthon, ziehen in eine Außenwohngruppe und beginnen mit einem Arbeitspraktikum.

„Suchtarbeit ist wie Sisyphusarbeit“, erklärt Civan. Erfolg und Misserfolg liegen oft eng zusammen. Viele Patienten schwanken rasch zwischen Hoffnung und Verzweiflung, dem Jubel folgt oft der Katzenjammer und Langeweile, viele werden rückfällig. 2008 haben 30 Prozent der Klienten die Therapie abgebrochen, aber etwa ein Drittel schafft den endgültigen Absprung.

Sie sind alle männlich, haben einen Migrationshintergrund und muslimische Wurzeln – sie finden körperliche Schmerzen erträglicher als seelische

Es ist ein träger, sonniger Sonntagnachmittag im Juli, ruhig und therapiefrei, es wird sehr viel geraucht auf der Terrasse. In der Nacht zuvor ist ein Mann bei seinem Ausgang rückfällig geworden und hat Heroin gespritzt. Seine Frau und die Tochter brachten ihn morgens zugedröhnt zurück nach Birnthon und sofort kam heraus: Auch andere Klienten hatten Drogen bei ihm bestellt, die kamen aber nie an. Die Stimmung ist dementsprechend gereizt, die Betroffenen wissen, dass sie rausfliegen können. Auch Sinan hatte eine Bestellung aufgegeben, „weil ich den Gedanken an Drogen einfach nicht aushalte“. Während er davon erzählt, gestikuliert er wild, schwitzt und kritzelt einen Zettel voll. Wenn er seine braunen Augen aufreißt, sieht er so unschuldig aus wie jemand, der in den Arm genommen werden will, seine muskulösen Arme mit einem Halbmond und einem Kreuz darauf tätowiert passen so gar nicht zu der kindlichen Stimme. Er muss jetzt abwarten, wie das Team am Montag über ihn entscheiden wird.

Beim späteren Wochenrückblick wird jeder Einzelne gefragt, ob er Drogen genommen habe oder jemanden verdächtige, welche konsumiert zu haben. Manche Männer grinsen, anderen scheint es egal, fast alle verneinen diese Frage. Ein älterer Mann beschwert sich, dass er immer mit „Araber“ angesprochen werde. „Ich habe einen Namen“, kritisiert er. Es wird gelacht, die anderen machen Witze, verstehen seine Aufregung nicht. „Ich bin Türke, und wenn mich jemand Türke nennt, dann ist mir das egal, es stimmt ja auch“, sagt einer. Eine Balance zu finden zwischen Distanz und Nähe, das ist für viele schwierig. Jeder hat seine hässliche Geschichte. Es miteinander auszuhalten, das bedarf schon einiger Kraft. Natürlich gebe es immer wieder Spannungen, auch wegen der unterschiedlichen Kulturen, die hier aufeinandertreffen. „Es kommt vor, dass sich etwa Sunniten und Aleviten zunächst schwertun oder türkische Nationalisten mit kurdischen Freiheitskämpfern in einen Raum sitzen müssen“, sagt Civan, „aber die Sucht macht sie dann doch alle zu Verbündeten.“

Sinan, der Deutschgrieche, darf die Therapie trotz seiner Drogenbestellung fortsetzen. Weil die Drogen nie angekommen sind und er es sofort bereute. Außerdem sei er sehr therapiemotiviert und soll noch mal eine Chance erhalten. „Ich will es unbedingt schaffen“, wiederholt Sinan ständig. „Denn ich neige zu Extremen, ich bin extrem.“ Das sei das Schlimmste.

*Name von der Red. geändert