: So richtig schön gequälte Körper
Wer Leiden will, findet es in der Kestner-Gesellschaft Hannover: Mehrere Ausstellungen inszenieren dort geschundene Hunde und für Kriege zugerichtete Jünglinge
Von Bettina Maria Brosowsky
Gleich zwei niedersächsische Kunstinstitutionen bestreiten vom 20. April bis 24. November je eines der „eventi collaterali“, der zahllosen Begleitausstellungen zur 60. Biennale in Venedig. Das Kunsthaus Göttingen präsentiert seinen Hauskünstler, den US-Amerikaner Jim Dine: Er bespielt mit 32 neuen Werken einen Palazzo aus dem 14. Jahrhundert am Canale Grande.
Die Kestner-Gesellschaft aus Hannover wiederum zeigt in einem alten Tabakspeicher eine Werkauswahl der Britin Rebecca Ackroyd. Dabei handelt es sich um eine Erweiterung ihrer Einzelausstellung, die rund um den Jahreswechsel in der Landeshauptstadt zu sehen war. Jenes Gruselkabinett Ackroyds, irgendwo zwischen blutigem Drama, Fruchtbarkeitsbeschwörung, psychopathologischem und ästhetischem Trash, scheint sich derzeit nahtlos in zwei aktuellen Ausstellungen der Kestner-Gesellschaft fortzusetzen. Weder der Brite Roger Hiorns noch die Georgierin Anna K. E. liefern in Hannover etwas ab, dass man gern als schöne Ausstellung empfehlen möchte.
Hiorns, 1975 in Birmingham geboren, interessiert sich ähnlich seiner Landsfrau für monströs Technisches. Während Ackroyd ihre riesigen Turbinen malt, fährt Hiorns für „Today“, seine erste institutionelle Einzelausstellung, derartiges in natura auf. Sie dienen, etwa das große Flugzeugtriebwerk, für Standfotos und Performances mit nackten jungen Männern.
Die Akteure sollen in ruhigen Posen antike Skulpturen oder den „Denker“ Auguste Rodins in Erinnerung rufen. Sie werden in der aktuellen politischen Großwetterlage aber wohl eher mit den „Fleischangriffen“ der russischen Armee in der Ukraine in Verbindung gebracht. Die Symbiose aus Kriegsgerät und ihm unterworfenen fügsamen und gelehrigen Jünglingskörpern hat vielfältige philosophische Ausdeutungen erfahren: „Politische Anatomie“ nannte sie der Franzose Michel Foucault.
Hiorns spielt aber auch auf die erotische Aufladung an, die etwa der Faschismus in seinen Erlösungsfantasien pervertierte: der Opfertod im Kriegsgefecht als ultimativer Orgasmus. Dazu ergießen sich schaumige Ejakulationen aus kleinen Plastiktanks in den Ausstellungssaal. In einem weiteren Raum im Erdgeschoss hat Hiorns apokalyptische Malereien aufgefahren: jede Menge Penetrationen in und durch ausgemergelte Körper, grau, fast schon Skeletten gleich.
„Dolorem Ipsum“: Dieser Titel der bislang umfangreichsten Einzelausstellung der 1986 in Tiflis geborenen, in New York lebenden Anna K. E. in den Obergeschosssälen mutet erst einmal humorvoll an. Er zitiert, leicht verquer, den im grafischen Gewerbe gebräuchlichen, nur bedingt eine Aussage liefernden Blindtext „Lorem ipsum dolor sit amet“. Ob seiner ausgewogenen Zeichenkombination gilt er als repräsentativ für viele Sprachen des lateinischen Alphabets. Allerdings soll ein Text Ciceros über die Extreme des Guten und Bösen die Grundlage geliefert haben. Und da geht es eben auch um den Schmerz, im Akkusativ Singular „dolorem“, den sich niemand freiwillig zufüge.
So verlangt etwa das klassische Ballett, das Anna K. E. einst in Georgien trainierte, gewisse Schmerzbereitschaft, zumindest Disziplin und Körperkontrolle, und ist darin Hiorns kriegsbereiten Jünglingskörpern nicht ganz unähnlich. In ihrer Installation eines Probenraums versammelt sie das bekannte Inventar aus horizontalen Haltestangen und wandfüllendem Spiegel. In die hölzernen Handläufe sind Losungen zu körperlicher Widerständigkeit gefräst und mit Marzipan ausgefüllt, ein im Kunstkontext ungebräuchliches Material. Der süße Einklang endet aber spätestens in dem Video-Selbstporträt aus perspektivischer Untersicht: Speichel der Künstlerin tropft auf die Kameralinse, die irgendwann kein erkennbares Bild mehr liefert. Mit Marzipan sind auch die verdrehten, wie durch eine unnatürliche Choreografie geschundenen, lebensgroßen Hundeplastiken überzogen, die im Oberlichtsaal auf einem weißen Fliesensockel lagern. Dieses Material wiederum soll an postsowjetische Monumentalgestaltungen erinnern. Vervollständigt wird die Installation durch einen verstörenden, das ganze Haus durchdringenden Sound, ein metallisches Pfeifen aus Sinustönen, das großen, grauen Klangtrichtern entspringt. Ein zyklisch erneuerter Schriftzug schmückt die Fassade, Alfredo Jaar warnt darin vor der Ungeheuerlichkeit des Möglichen. Aber auch schier Unmögliches mag gelingen. Das Video der israelischen Künstlerin Nira Pereg zeigt im Projektraum des Erdgeschosses die einträchtig abwechselnde Nutzung der „Höhle der Patriarchen“ in Hebron durch muslimisch wie jüdische Gläubige. Geht doch!
Ausstellungen „Today“, „Dolorem Ipsum“, „Abraham Abraham Sarah Sarah“ sowie „be afraid of the enormity of the possible“ bis 30. Juni, Kestner-Gesellschaft Hannover
Führungen durch die Ausstellungen am 30. 5., 17.30 Uhr, 31. 5.,14 Uhr, sowie 1. 6., 16 Uhr
Vortrag „Roger Hiorns träumt nicht von elektrischen Schafen“, mit Ruth Noack, 30. 5., 18.30 Uhr
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