berliner szenen
: Im wirklichen Leben

Das Mädchen trug ein leuchtend weißes Kopftuch, nur ihr zartes, kindliches Gesicht war zu sehen. Ich stand in der Schlange eines Neuköllner Supermarktes an der Kreuzung Flughafen- und Karl-Marx-Straße. Ich hatte eine Gurke zu besorgen. Meine Tochter war zu Besuch und wollte Sushi machen. Draußen dunkelte es.

Leider versperrte mir die langweilige Zahlungsverpflichtung den Weg zurück in die Freiheit. Den Menschen um mich herum erging es nicht anders. Einmütig gafften wir nach vorne, als würden wir die Szenen an der Kasse im Fernsehen verfolgen. Seit Minuten ging nichts voran. Das Mädchen sah verängstigt aus. Immer wieder steckte sie die Bankkarte in den Schlitz des Zahlgeräts, gab die PIN ein, so wie es ihr die Person an der Kasse freundlich erklärt hatte, und wieder passierte nichts. Die Zahlungsanfrage wurde abgelehnt. Fühlte sich das Mädchen ebenfalls abgelehnt? Jedenfalls war sie den Tränen nahe. „Warum habe ich kein Bargeld mitgenommen?“, wird sie sich vielleicht gefragt haben. Ich fragte mich das voller Sorge und blickte auf meine Gurke. Womöglich droht mir das gleiche Schicksal, dachte ich. Auch die anderen in der Schlange wurden langsam nervös. Irgendwer würde für diese dumme Bankkarte einspringen müssen und ihr den Liter Milch bezahlen, denn so viel war klar: Das Mädchen würde nicht aufgeben und der Automat sowieso nicht. Eine Hängepartie drohte.

Ein älterer Mann mit Vollbart trat schließlich aus der Schlange zu ihr und sprach sie leise an. Sie nickte schüchtern, lächelte sogar ein wenig, sagte aber kein Wort. Der Mann zog einen kleinen Geldschein aus der Hosentasche und zahlte für sie. Im wirklichen Leben braucht es anscheinend keine Superkräfte, um die Welt zu retten. Das Sushi am Abend schmeckte köstlich.

Henning Brüns