Roman über lesbische Selbstfindung: Bruch mit jeglicher Bürgerlichkeit
Die lesbische Frau tritt auf als einsamer Cowboy. „Love Me Tender“ von Constance Debré ist ein beeindruckend kämpferisches Stück Selbstfindungsprosa.
In ihrem ersten Leben ist Constance Debré Anwältin. Sie ist verheiratet, hat einen Sohn. Der Familienclan, aus dem sie stammt, ist so illuster wie bürgerlich. Der Großvater war französischer Premierminister, der Vater Journalist, die Mutter ein adeliges Model. Doch dann, mit 43 Jahren, kündigt Debré ihren Job, trennt sich von ihrem Ehemann, zieht aus der gemeinsamen Wohnung. Sie outet sich als lesbisch und wird Schriftstellerin.
„Love Me Tender“ ist eines der vier Bücher, die sie seitdem veröffentlicht hat, und das erste ihrer autofiktionalen Werke, das ins Deutsche übersetzt wurde. Die Erzählerin darin teilt Debrés Biografie und ihr Aussehen. Raspelkurze Haare, Männerhemd, Tattoos. Und auch sie hat den unbedingten Willen, die Welt, in der sie aufgewachsen ist, zu verlassen.
Zu Beginn lebt sie noch in einer Einzimmerwohnung mit Papptellern. Später gibt sie auch diese auf und wohnt zur Untermiete. Ihren Besitz gibt sie weg, Lebensmittel klaut sie. Ein Sicherheitsnetz soll es nicht geben: keinen Job, keine Community, keine Wahlverwandtschaften. Alles wird aufgekündigt. Eine Selbstenteignung – so radikal wie möglich: „Ein komfortables Leben mit vollem Kühlschrank, lieber sterbe ich.“
Wie es ist, weiblich und „klassenflüchtig“ zu sein, darüber schreibt aktuell wahrscheinlich niemand so prominent wie die französische Autorin Annie Ernaux. Literarisch erforscht sie ihre Herkunft aus einer Arbeiterfamilie und ihren Weg ins privilegierte Dasein einer Intellektuellen. Constance Debré macht die Rolle rückwärts.
Constance Debré: „Love Me Tender“. Aus dem Französischen von Max Henninger. Matthes & Seitz, Berlin 2024, 149 Seiten, 20 Euro
Was soll das, fragt man sich, performt hier jemand Armut, um sich dem Leben wieder nah zu fühlen? Versucht man sich vorzustellen, wie einflussreich die im Buch anskizzierte – und Debrés wirkliche – Familie in Frankreich sein dürfte, und welche weitreichenden Privilegien mit diesem sozialen Status verbunden sind, dann gibt es aus diesem Leben vielleicht keine softe Exitstrategie.
Sex statt Nähe
In rauem Ton und protokollarischem Stil erzählt das weibliche Ich über einen Alltag befreit von Lohn- und Sorgearbeit: „Meine Arbeit besteht darin, zu warten, zu schwimmen und Frauen zu ficken.“ Ihre Eroberungen sind zahlreich. Ihr geht es um Sex, nicht um emotionale Nähe, und darum, eine mit Männlichkeit assoziierte Härte und Isolation zu pflegen – die lesbische Frau als einsamer Cowboy. Ein Bruch mit jeglicher Bürgerlichkeit soll es sein, auch einer homosexuellen, und eine Lebensweise quer zur Norm.
Warten, das muss die Erzählerin auf ihren achtjährigen Sohn Paul. Vom Ehemann Laurent lebt sie schon drei Jahre getrennt, als sie ihm eröffnet: „Ich hab jetzt was mit Frauen.“ Darauf bricht er den Kontakt ab und lässt die Erzählerin nicht mehr zu Paul. Als sie einen Anwalt einschaltet, beantragt Laurent das alleinige Sorgerecht und beschuldigt sie des Inzests und der Pädophilie. Es beginnt der Kampf um Besuchszeiten und psychologische Gutachten, gegen Verleumdung, Vorurteile und Entfremdung.
Dieser zermürbende Sorgerechtsstreit ist der eigentliche erzählerische Rahmen von „Love Me Tender“. Wie liebt man seinen Sohn aus der Ferne? Wie liebt man ihn, wenn man es liebt, allein zu sein? Wie sieht Mutterschaft aus, wenn man sich von keiner sozialen Beziehung definieren lassen will und gleichzeitig der Kontakt zum eigenen Kind von der französischen Justiz diktiert wird? Im Schreiben über diese Zerrissenheit und diesen Schmerz ist „Love Me Tender“ besonders stark.
Wut auf feministische und queere Bewegungen
Doch wenn die Erzählerin mit Wut über Familie und gesellschaftliche Erwartungen schreibt, stolpert man vor allem in den ersten beiden Teilen des Texts über manch einen ihrer Sätze. „Wer möchte schon Mutter sein?“, liest man da zum Beispiel. „Außer Leute, die alles falsch gemacht haben im Leben. Die in allen Angelegenheiten dermaßen gescheitert sind, dass sie sich nur so, durch ihre Mutterschaft, an der Welt rächen können.“ Oder wenn es um feministische und queere Bewegungen geht: „Draußen in der Welt geht es nur um MeToo und Ehe für alle, aber das ist nur Zirkus.“
Aus feministischer Perspektive wirft man einer anderen Frau nur mit Unbehagen vor, mit ihrer Wut sei irgendetwas nicht in Ordnung. Wenn wütende Frauen als unangenehm gelten, sind Rants über Mutterschaft vielleicht gerade ein Zeugnis für ein unangepasstes und der eigenen Autonomie verpflichtetes weibliches Ich. Ein Ich, das durch den Versuch, sich aus geerbten Macht- und Familienstrukturen zu lösen, auf sich selbst zurückgeworfen wird.
Diese absolute Konzentration auf sich stößt aber gerade durch einen Mann, nämlich Laurent, und den Sorgerechtsstreit an seine Grenzen. Hier schränken Staat und diskriminierende Vorwürfe die persönliche Freiheit ein. Wut als emotionale Reaktion darauf ist nachvollziehbar, steht einer Analyse dieses politischen Kontexts auf literarischer Ebene allerdings im Weg. Trotzdem liest sich „Love Me Tender“ als beeindruckender Versuch einer Frau, zu sich selbst und zur Welt in ein neues Verhältnis zu treten.
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