ROBIN ALEXANDER über SCHICKSAL
: Kugelstoßen mit Rosa Luxemburg

Die gesellschaftlichen Verhältnisse stehen Kopf: Arbeitslose sind König – auf unserem Bouleplatz

Zur Entspannung will meine Freundin ständig schwere Eisenkugeln auf ein Schwein werfen. Das klingt jetzt ein bisschen so, als müsste man sich Sorgen um sie machen. Keine Angst! Eigentlich hat sie, als es in diesem Jahr Frühling wurde, nur gesagt: „Lass uns doch auch mal Boule spielen gehen!“

– „Warum das denn?“, antwortete ich gequält.

– „Na, bei Sonne ist es doch schön, an der frischen Luft zu sein. Außerdem machen das jetzt alle …“

– „Können wir nicht einfach nur ein Eis essen gehen?“

Nein, konnten wir nicht. Also Boule. An dieser Stelle folgt ein kleiner Einschub für die Menschen, die nicht wissen, was Boule ist: Beim Boule, dem südfranzösischen Pétanque oder dem italienischen Boccia, geht es darum, handgroße Eisenkugeln mit einem einzigen Wurf möglichst nahe an eine kleine, andersfarbige Holzkugel, das so genannte Schweinchen oder Schwein, zu rollen.

Ich muss gestehen, dass ich gewisse Vorurteile gegen das Boule-Spiel hegte. Das kam daher, dass ich es noch nie gespielt, sondern nur dabei zugeschaut hatte. Und für Zuschauer ist Boule ungefähr so spannend wie Hallenhalma, so sexy wie Hufeisenwerfen und hat einen noch etwas unnatürlicheren Bewegungsablauf als Dressurreiten. Deshalb ist Boule trotz zahlreicher Sportkanäle, die sogar Dart, Snooker und schottisches Baumstammschleudern übertragen, so gut wie nie im Fernsehen zu sehen.

Der letzte Prominente, der sich öffentlich zum Boule bekannte, stammt noch aus der Vor-Fernseh-Ära: Konrad Adenauer ist nicht nur der Vater der Westbindung, der CDU und des Rosenzüchtens, sondern auch der überschaubaren deutschen Boulebewegung.

Ich weiß allerdings nicht, was der Altkanzler sagen würde, wenn er unseren Bouleplatz sehen könnte. Der liegt am Ufer des Landwehrkanals, in den 1919 die Leiche von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht geworfen wurden, die geträumt hatten, die gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Kopf zu stellen. Das hat auch geklappt, wenn auch nur auf unserem Bouleplatz.

Hier sind jene, die über Ressourcen und vermarktbare Fähigkeiten verfügen, plötzlich die Bittsteller, die um ihr Stück vom Kuchen betteln müssen. Andererseits sind die Menschen ohne Job, Geld und geregelten Tagesablauf auf dem Bouleplatz am oberen Ende der Hierarchie. Denn wer einen Arbeitsplatz hat, schnappt sich das Holzköfferchen mit den Kugeln frühestens um 17.30 Uhr. Die Arbeitslosen haben zu dieser Zeit schon vierzig Partien hinter sich und müssten eigentlich in einer Profiliga spielen.

Dieses verdammt gute Gefühl erschleichen meine Freundin und ich uns auch von Zeit zu Zeit. Wenn wir einen Tag frei habe, tun wir einfach so, als wären wir vom Sozialamt gesponserte Bouleprofis. Dann stellen wir uns schon morgens mit der Bierflasche auf die Bahn und werfen uns betont lässig ein, um gegen Mittag die ersten Spiele zu machen. Nachmittags legen wir uns mit den Gauloise-Rauchern, die ihre Stütze zum Öko-Winzer tragen, für eine kurze Pause ins Gras, um gegen Feierabend wieder die Boulebahn blockieren zu können, wenn die arbeitende Bevölkerung aufläuft. Die wünschen uns dann einen Ein-Euro-Job an den Hals und beten, dass uns bald die Merkel und der Westerwelle holen.

Noch ist es gottlob nicht so weit: Noch regiert der Kommunismus auf dem Bouleplatz und macht die Menschen zufrieden. Mit Hektik ist bei diesem Sport nichts zu erreichen, Konditionstraining wäre albern, niemand putscht sich hier mit Aggressionen hoch: In der Ruhe liegt die Kraft. Als ich meiner Freundin ein paar neue, schöne Kugeln aus dem Fachgeschäft schenken wollte, sagte der Verkäufer zu mir: „Die schaben mit der Zeit ein bisschen ab. Aber das macht nichts: Sie glänzen dann nicht mehr so sehr, aber dafür werden sie viel griffiger.“

Das trifft eigentlich auch auf jede gute Langzeitbeziehung zu, dachte ich, und sagte: „Können Sie sie mir als Geschenk einpacken?“

Stoßen oder werfen? kolumne@taz.de Montag: Peter Unfried über CHARTS