Live-elektronisches Dispositiv

KLANGREVOLUTION Der Schweizer Komponist Thomas Kessler, die Staatskapelle Weimar und das Kunstfest Weimar greifen mit „Utopia“ nach einem risikoreichen Orchesterklang

Die Musiker modulierten ihren Klang elektronisch. Das Orchester verwandelte sich in Klanginseln

VON BJÖRN GOTTSTEIN

„Utopia“ steht über dem Eingang der Konzerthalle. Rechts daneben, auf der Wand eines Supermarkts, fordert ein Graffiti: „Nationaler Sozialismus jetzt“. Es liegt noch einiges im Argen, was den politischen Diskurs in Weimar betrifft. Die versprochene Utopie hat es allerdings in sich. Denn besagte Halle wurde am Sonntagabend Schauplatz eines neuen Modells gemeinschaftlichen Wirkens, das der Schweizer Komponist Thomas Kessler mit der hiesigen Staatskapelle erprobte. „Utopia“ heißt das Stück, das Kessler zusammen mit dem Orchester realisierte und das die Voraussetzungen des Orchesterbetriebs außer Kraft setzte.

Das Orchester als Apparat

Dazu muss man vielleicht wissen, dass ein Orchester kein bunt zusammengewürfelter Haufen ist, sondern ein über Jahrhunderte gewachsener Apparat, der gesellschaftliche Entwicklungen mindestens so gut abbildet wie der Aktienkurs. Das große Sinfonieorchester gilt gemeinhin als Gleichnis der demokratischen Gesellschaft, in der zwar jedes Mitglied eine Stimme hat, die Stimmen aber je anders gewichtet werden. Bässe und Schlagzeug grundieren die Musik mit einem robusten Fundament, spielen aber kaum je die Melodie. Die Oboe gibt den Ton an, nach dem gestimmt wird, und der Konzertmeister, die erste Violine, greift diesen Ton auf und gibt ihn an die übrigen Musiker weiter. Auch evolutionäre Tendenzen spielen im Orchester eine Rolle; nicht alle Klangfarben setzen sich durch. Die Blockflöte musste der dynamischeren Querflöte weichen, das Cembalo dem Klavier.

Nun stand bei Kessler zwar weder eine Blockflöte noch ein Cembalo auf der Bühne. Aber dadurch, dass jeder Musiker mit einem Laptop und einem Lautsprecher ausgerüstet worden war, verschwanden zunächst einmal die dynamischen Hierarchien im Ensemble. Dadurch, dass jeder Musiker überdies angewiesen war, seinen eigenen Klang elektronisch zu modulieren, verwandelte sich der geschlossene Klangkörper in eine Reihe von Klanginseln, die sich ihre Zusammengehörigkeit neu erarbeiten mussten. Kessler wendet sich mit seinem live-elektronischen Dispositiv auch gegen die zentralistische Ästhetik des Mischpults. Wo sonst der Komponist, mit Karlheinz Stockhausen als Prototyp, den Lautsprecherklang vom Mischpult aus steuerte und die Musik unter genialisch-potentem Gebaren mit seinem Geist versah, tritt Kessler als Schöpfer zurück, um die Musiker das Timbre steuern zu lassen. Die Frage, inwiefern die Abhängigkeit von der Maschine nicht den Gedanken vom freien und mündigen Individuum unterwandert, blieb dabei zunächst offen.

Schwieriges Unterfangen

Das Ergebnis war eine 71-kanalige Musik, die mitunter zum hoffnungslosen Brei gerann. Musikalische Figuren verschwammen, Feinheiten der Artikulation gingen in der schieren akustischen Masse unter. Die Utopie ist, soviel war von Kessler zu lernen, kein leichtes Unterfangen, sondern ein Prozess, der auch Enttäuschungen bereithält.

Gelegentlich entstand dabei ein dritter Klang, ein tiefes, ursprungsloses Grummeln, das aus der Masse emporzusteigen schien und die Vorahnung eines anderen Orchesters mit Geisterstimme andeutete. In den lichteren Momenten hingegen, in denen Kessler einzelne Gruppen isolierte, kamen die Farben dann zu ihrem Recht – eine ringmodulierte Flöte, ein mit einem Tremolo versehenes Horn, ein gefilterter Gong. Und wenn eine große Streichergruppe einen Ton spielt und die Tonhöhe dann per Fußpedal verändert, dann liegt im Schleifen der Differenz, das sich zwischen den einzelnen Stimmen ergibt, tatsächlich etwas Neues, Großes, ja Erhabenes.

Kessler, die Staatskapelle Weimar, aber auch das Kunstfest Weimar, in dessen Rahmen die Uraufführung von „Utopia“ stattfand, sind ein hohes Risiko eingegangen. Da man erst proben kann, wenn die Partitur fertig ist, man zwar voraussehen kann, wie ein gelooptes Cello und eine granulierte Oboe klingen, sich die Summe der Effekte aber nur ungefähr vorstellen kann, blieb das Stück ein Experiment. Natürlich fehlte hier und da die letzte Präzision bei den Tutti-Einsätzen, hatten die Musiker nur ein ungefähres Gefühl für ihren Platz im Ensemble. Hinzu kam, dass die die prachtvolle Viehauktionshalle, in der das Konzert stattfand, mit ihrem hohen hölzernen Gebälk nicht besonders druckvoll klang. Aber das sind Kleinigkeiten, die die hier angezettelte Revolution nicht werden aufhalten können.