berliner szenen Sehnsuchtsorte

Morgenrot, Dr.

Die neuen Telefonbücher sind da. Früher bekam man sie bei der Post nur gegen eine Abholkarte ausgehändigt. Heute geht man einfach rein ins Amt und nimmt sie sich vom Stapel. Das zweibändige, in Plastikfolie eingeschweißte Telefonverzeichnis von A bis Z sowie das Branchenbuch. Wenn man nicht ganz auf die CD-ROM-Verzeichnisse umgestellt hat, schleppt man nun die schweren Koffer nach Hause.

Dort beginnt ein altes Ritual. Was ist eigentlich mit dem und dem, wohnt der noch da oder ist er umgezogen, steht er überhaupt noch drin? Es gibt Namen, da geht das Nachschlagen nicht ohne banges Gespanntsein. Hoffentlich ist er noch da, bitte sei nicht weg. So schaut man Jahr für Jahr unter F oder P nach und kommt sich dabei ziemlich blöd vor. Steht der Mensch drin, ist er theoretisch erreichbar, existiert zumindest weiterhin als Name mit Telefonnummer.

Etwa Morgenrot, Dr., 37 64 98 10. Da ist er ja. Aber anders! Ist er das überhaupt? Keine Straße mehr dabei, und früher gab es zwei Titel. Die Telefonnummer wurde nie notiert, was nun? Ein kleiner Besorgungsgang führt zufällig an den Altpapiertonnen bei der Post vorbei. Sich zu widersetzen ist zu arg, aber auch dem Schnüffeldrang nachzugeben kostet Überwindung. Doch wenn die Nummer aus dem alten Verzeichnis mit der aus dem neuen übereinstimmt, bliebe alles, wie es ist, und die Sehnsucht behielte ihren Ort. Die Tonne ist allerdings fast leer, nur ganz unten in unerreichbarer Ferne liegen ein paar Telefonbücher. Es guckt auch schon einer komisch, aber der Arm wird nicht länger. Das ist ein Moment herber Ernüchterung, weil jemand aus der Vergangenheit mit so übergroßer Deutlichkeit beginnt sich zu entziehen.

KATRIN SCHINGS