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Ausgehen und rumstehen von Robert MießnerIm Kessel steigt der Druck

Foto: privat

Laufen hilft gegen Verdrießlichkeit, doch am Sonnabend war ich in Steglitz vor Ladenschluss. Auf der Schlossstraße eilten Passanten mit ihren Wochenendeinkäufen nach Hause. Zwischen ihnen bewegten sich mit weniger festen Schritten Menschen ohne Zuhause. Armut sucht Bahnhöfe, das hätte so auch auf der Schönhauser Allee, unter den U-Bahnbrücken oder auf dem Alexanderplatz zwischen Fernsehturm und Hotel Stadt Berlin sein können, aber hier war ich in Steglitz, einem Bezirk, dessen Name zumindest in meinen Ohren nach Wohlstand tönt. In der Stadt verschiebt sich etwas. Weniger vorsichtig gesagt, im Kessel steigt der Druck. Das zu bemerken braucht es nur einen kurzen Fußweg.

Weiter auf der Schlossstraße, hinter Tchibo und C&A, ragt ein Relikt des alten Westberlins knapp 50 Meter in die Höhe. Bierpinsel nennen Frontstadtsozialisierte die Rose aus Sichtbeton. Der Siebzigerjahrebau hat den Rias beheimatet und war als Filmkulisse Adresse des Landeskriminalamts. So wie das verwaiste Turmrestaurant hätte Syd Barett seinen Rasierpinsel sehen können am Morgen, nachdem der Pink-Floyd-Diamant der Welt, die sich für vernünftig hält, abhandengekommen war.

Zu meiner zweiten Station musste ich in Richtung Zentrum fahren. Im Berlinale-Palast am vom Namen her schönen Marlene-Dietrich-Platz wurden die Preise der Filmfestspiele verliehen. Ich bin vorher ausgestiegen und musste daran denken, wie sich um die Ecke, Anfang der neunziger Jahre, dort ein Flohmarkt ausstreckte. Im Winter auf Eis, im Frühjahr im Schlamm, im Sommer und Herbst im Staub, dafür gab es Platten und spitze Schuhe. Diesen Sonnabend zog es mich in die Nachbarschaft einer Ruine. Am Askanischen Platz steht, was nach Weltkrieg und Abriss vom Anhalter Bahnhof übrig geblieben ist, der Rest seines Eingangstors. Gegenüber befand sich, das muss jetzt schon in der Vergangenheitsform geschrieben werden, die Guardini Galerie.

Am Sonnabend waren ihre Wände bereits kahl, im Untergeschoss fand das letzte Konzert statt: Die Improvisationsmusiker Dror Feiler und Georges Paul hatten eingeladen und spielten, was sich als dezidierter Anti-Blues bezeichnen ließe, heftigen Noise an Saxofonen, Elektronik und einem Kontrabass, der auch perkussiv traktiert wurde. Feiler trug ein T-Shirt, auf dem ein Mikrofon und Kopfhörer Hammer und Sichel bildeten. Er wird das nicht ausschließlich ironisch meinen.

Tatsächlich gelaufen bin ich an den Rosa-Luxemburg-Platz. Am 22. Januar ist die Dichterin Elke Erb gestorben, am Sonntag hat ihr die Volksbühne im Großen Saal ein Fest ausgerichtet. Vom späten Vormittag bis in den frühen Nachmittag lasen Weggefährtinnen und Zeitgenossen, zeigten Filme, befreiten sich nach einer dezenten Direktive Erbs vom Klavierspiel durch das Klavierspiel und hörten einander zu. Sie erzählten von einer bescheidenen, dabei nicht verzagten, einer unabhängigen, dabei nicht egoistischen Frau. Es ging um Absagen und Abschiede, um Sprache und Natur. Der Morgen auf den Theatertreppen hatte im Winter begonnen, der Mittag den Vorfrühling gebracht.

Danach ging ich in die Kastanienallee. Elke Erb hat sie zum literarischen, das heißt sinnlich erfahrbaren Ort gemacht, lange bevor die Achse zwischen Prenzlauer Berg und Mitte zur Promenade geshoppt worden ist. Auf dem Weg zum Prater liegt die Messiaskapelle. Vor ihrem Eingang ist in den Backstein-Bürgersteig eine Stolperschwelle eingesetzt. Sie erinnert an die 700 Juden, die sich hier zwischen 1933 und 1941 taufen ließen. 86 von ihnen wurden deportiert, nur zwei haben überlebt.

Einer der Beiträge an diesem Sonntag in der Volksbühne war „Die Rückkehr von den KZ- und Todesinseln“. Darin schreibt Elke Erb, sie hat viele ihrer Texte datiert, am 29. Juli 1974: „Ich habe ein Gesicht heute morgen, als ob ich natürlich zwanzig Jahre eher sterbe, weil ich seit meinem vierzehnten Jahr unter Tage arbeite. Dort, wo ich stehe, sehe ich (von jedem Spiegel weg), geschlossenen oder offenen Auges, die Schiffe mit den Gepeinigten kommen. Den dritten Tag den Tanggeruch, das Plätschern der Sonne, die Rückkehr.“

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