Vom Winde verwöhnt

Nie war es einfacher, den Gegenwind zum Rückenwind zu machen. Lediglich ein wenig Umsicht gehört dazu: wissen, woher es weht. Und auch, wann und wo Bus und Bahn verkehren

VON ACHIM BELLGART

„In Groningen war Schluss mit lustig“, erzählt Carola Raabe von ihrer Radtour in die Niederlande. Schluss mit dem kräftigen Ostwind, der sie in eineinhalb Tagen rund 200 Kilometer vor sich hergeschoben hatte. Gestartet in Bremen, wäre sie mit seiner Hilfe als Krönung des verlängerten Wochenendes auch noch über den 30 Kilometer langen Abschlussdeich gekommen. Der trennt die Nordsee vom Ijsselmeer und ist an vielen Tagen ein Laufsteg für stürmische Auftritte. Doch als kurz vor Groningen der Wind sich drehte, wurde aus der angenehmen Unterstützung von hinten ein unangenehmer Angriff von vorne. Die erfahrene Tourenradlerin wusste sich zu helfen: Aus der Zeitung erfuhr sie, dass für den nächsten Tag Südwestwind vorhergesagt war. Und am Bahnhof, dass sie um 18 Uhr einen Zug nach Amsterdam nehmen konnte. Das liegt südsüdwestlich vom Abschlussdeich. Der Plan: ihn von der anderen Seite aus befahren.

Anlass, dem Wind ein Schnippchen zu schlagen, gibt es fast dauernd: Durchschnittlich weht er in Deutschland mit Stärke drei, mit Abweichungen nach oben (an der Küste) und nach unten (um den Main herum). Das ist zwar in der Sprache der Meteorologie nur eine schwache Brise, aber jeder weiß, wie spürbar sie auf Dauer ausbremsen kann. Das wurde lange mit dem Spruch verbrämt, anständige Radfahrer hätten halt immer Gegenwind. Doch es scheint so, dass immer weniger Radfahrer gewillt sind, sich damit abzufinden. Auch wenn es noch kein Buch mit Rückenwindtouren gibt und auf dem Markt der organisierten Radtouren Rückenwindausflüge kaum zu finden sind, wächst die Zahl derer, die genau das wollen – sich vom Winde verwöhnen lassen. Das kann Bequemlichkeit sein, bei vielen, die schlecht zu Rad sind, aber auch der Spaß am Radeln – außerhalb eines engen Radius.

Eine etwas andere Motivation bewegt Rainer Rehbein, Radtourenleiter beim ADFC Bremen. Als er im Umland alles erfahren hat, wollte er auch mal dahin, „wo man sich nicht mehr auskennt“. Seit acht Jahren bietet er einmal im Hochsommer eine 200-Kilometer-Tour an. Und damit nicht nur ein paar Hochleistungsradler dabei sein können, wird vorwiegend in die Richtung gefahren, die auch der Wind bevorzugt. Um fünf Uhr geht’s los, die Rückfahrt per Bahn wird für 18 Uhr angepeilt. 20 Personen sind im Schnitt immer dabei, und sie sind selten jünger als 35.

Ob der Rückenwind eine Tour nur gemütlicher gestalten oder aber zum Geschwindigkeitsrausch verführen soll, die Vorbereitungen sind immer dieselben: Zunächst klären, woher der Wind weht. Die Hälfte der Zeit aus westlichen Richtungen, hat die Statistik ermittelt. Der angefeuchtete Zeigefinger sagt’s etwas genauer, aber nicht unbedingt in bebauten Gebieten. Dort geben Wetterhähne oder Fahnen auf hohen Gebäuden Auskunft. Kombiniert mit einer möglichst aktuellen Vorhersage ergibt das schon eine brauchbare Entscheidungsgrundlage. Genauer steht’s im Internet (etwa bei wetterstationen.meteomedia.de/messnetz oder bei www.wetteronline.de/deutsch.htm).

Die meisten brauchen’s nicht so perfekt, auch die Routenplanung muss nicht unbedingt professionell sein. Aber für die Planung der Rückfahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist Genauigkeit gefragt, soll nicht eine unfreiwillige Übernachtung fern des heimischen Fahrradkellers oder eine teure Taxifahrt riskiert werden. Also sind Fahrpläne zu konsultieren, telefonisch zu erfragen oder im Internet zu recherchieren. Clevere kalkulieren Wetter-, Fahrrad- oder Konditionspannen ein und haben für solche Fälle frühere Einsteigemöglichkeiten in petto. Und Erfahrene nehmen am Sonntag nicht den letzten Zug, weil dann häufig die Fahrradmitnahmekapazität ausgeschöpft ist.

Auch Carola Raabe war bestens vorbereitet, sie hatte sich mit den Abfahrtzeiten für alle möglichen Bahnhöfe an der Route versorgt und konnte unbeschwert die Fahrt über den Abschlussdeich genießen: „Vor dir ein schnurgerader Radweg bis zum Horizont und vier Windstärken im Rücken – cooler kann Rad fahren kaum sein.“ Nur die Rennradfahrer, die ihr entgegenkommen, erinnerten sie an zu Hause. Wenn sie dort ihre Feierabendrunde dreht, ist ihr die Windrichtung völlig wurscht.