Die Diktatur der Peitsche

Ein toter Afrikaner pro Eisenbahnschwelle, ein toter Europäer pro Eisenbahnkilometer: Eine Ausstellung im belgischen Tervuren dokumentiert die Verbrechen der belgischen Kolonialmacht im Kongo und bekommt dabei Angst vor der eigenen Courage

Das vom belgischen König Leopold II. erbaute und 1910 eingeweihte „Königliche Museum für Zentralafrika“ in Tervuren vor den Toren Brüssels trumpft als Prachtbau mit mächtiger Rotunde auf. Ein Flügel quillt über von Masken und Skulpturen, in den Zoologie-Sälen des anderen Flügels sind neben exotischen Tieren auch Elefantenstoßzähne zu sehen. Auf welch unschöne Weise das Elfenbein in den Besitz der belgischen Kolonialmacht kam, war bisher ein Tabu. Die 1960 mit der Unabhängigkeit des Kongo endende koloniale Herrschaft wurde als Wohltat interpretiert, die den arabischen Sklavenhandel beendete und Zivilisation und Fortschritt ins Herz der Finsternis brachte.

Die Sonderausstellung „Der Kongo – Gedächtnis und Erinnerung“ stellt sich nun erstmals und für eine europäische Kolonialmacht einmalig der kolonialen Realität. Sie zieht zahlreiche Besucher an, die mit ihren Kindern fröhliche Neugier verbreiten und sich keineswegs schockiert fühlen. Denn das ihnen aus der Schule geläufige retuschierte Geschichtsbild wurde eher moderat korrigiert, so dass die nicht mehr zu leugnenden Gräueltaten als Kollateralschäden des zivilisatorischen Prozesses erscheinen.

Das Museum gestaltet sich derzeit peu à peu zu einem zeitgemäßen Interaktionszentrum um und hat sich bewusst für einen Mittelweg zwischen bisheriger Verdrängung und radikaler Kritik entschieden. Für Letztere öffnete das 1998 erschienene Buch des amerikanischen Publizisten Adam Hochschuld „King Leopold’s Ghost. A Story of Greed, Terror and Heroism in Colonial Africa“ die Schleusen. Auf Deutsch erschien es 2002 unter dem Titel „Schatten über dem Kongo“.

In dem in Niederländisch und Französisch erschienenen Begleitbuch zur Ausstellung werden weitere Kritiker der vor allem in der ersten Kolonialphase exorbitanten Gräuel zitiert, wie etwa Luc Van der Kelen: „Die prächtigsten Gebäude unserer Hauptstadt sind auf dem Blut der Hälfte der kongolesischen Bevölkerung erbaut. Zehn Millionen Kongolesen sind zwischen 1880 und 1910 gestorben für das Elfenbein und den Kautschuk, die König Leopold II. zum Milliardär machten.“ Doch in der deutschsprachigen Broschüre distanzieren sich die Ausstellungsmacher von solchen „Mea culpa-Übungen einer gewissen westlichen Intelligentsia“. Sie halten die Opferzahl von 10 Millionen, also der Hälfte der auf 20 Millionen geschätzten Bevölkerung, für überhöht. Sie versuchen, die unbestreitbaren Verbrechen zu relativieren, indem sie das heutige Menschenrechtsbewusstsein als Maßstab der damaligen Zeit problematisieren. Sie beginnen ihre Ausstellung mit der jahrtausendealten Geschichte des Kongobeckens, innerhalb der die 80 kolonialen Jahre nur ein Wimpernschlag gewesen seien. Und sie verweisen auf die übrigen Kolonialmächte, die ebenfalls mit der Chicotte, der Peitsche, regierten.

Die wenigen Fotos mit dieser Chicotte in Aktion oder mit Zwangsarbeitern in Ketten geraten in den überfrachteten engen Räumen leicht aus dem Blick. Um am weltweiten Kautschuk-Boom jener Jahre zu verdienen, war alles erlaubt – Geiselnahmen, Dorfzerstörungen, Abhacken der Hände von Kongolesen, die sich der Zwangsarbeit verweigerten.

Zur gleichen Zeit zeigte die Brüsseler Weltausstellung von 1897 in ihrer kolonialen Dependance in Tervuren eine heile Welt und stellte 260 „echte“ Kongolesen zur Schau, die afrikanische Folklore mimten. Die aktuelle Sonderausstellung konzentriert sich auf die Jahre ab 1909, in denen der Kongo nicht mehr königlicher Privatbesitz, sondern eine Kolonie des belgischen Staates war. Wir sehen Fotos aus den Kupfer-, Diamant- und Uranminen oder vom Eisenbahnbau, die technologische Entwicklung und Produktionsziffern feiern, und können nur ahnen, wie mörderisch die von Weißen beaufsichtigten Arbeiten waren. Ein toter Afrikaner pro Eisenbahnschwelle, ein toter Europäer pro Eisenbahnkilometer – das ist von der 400 Kilometer langen Bahnlinie aus Léopoldville nach Matadi an der Atlantikküste überliefert.

Stärker in Erinnerung als diese Abstecher in die Unterwelt bleiben die vielen Bilder von sauberen Labors, in denen die Schlafkrankheit erforscht wird, oder von adrett gekleideten Kindern in hellen Schulräumen. Das Schulwesen lag überwiegend in der Hand der Missionare, 40 Prozent der Bevölkerung sollen 1960, im Jahr der Unabhängigkeit, alphabetisiert gewesen sein, 20.000 Schüler eine berufliche Ausbildung genossen haben. Dagegen gab es nach 80 Jahren europäischer „Zivilisierung“ nur 420 kongolesische Studenten und gerade einmal 29 mit einem Hochschulabschluss.

Durch die strikte Trennung von Schwarz und Weiß existierten in Léopoldville, dem heutigen Kinshasa, separate Wohnviertel, und die höheren Posten in Verwaltung und Militär waren allein Weißen vorbehalten. Der Mediziner Paul Bolya, Sprecher der Unabhängigkeitsbewegung, erinnert sich, dass er sogar am Operationstisch von Weisungen unausgebildeter Weißer abhängig war.

Ein weiteres heißes Eisen wird nicht in der Ausstellung selbst, sondern nur im Begleitbuch angefasst. Am Ende der Ausstellung wird der erste Premierminister der Demokratischen Republik Kongo, Patrice Lumumba, lediglich kurz als „nationaler Held und Panafrikanist für die einen, brutaler und verantwortungsloser Demagoge für die anderen“ charakterisiert. Nur der im Buch im Faksimile abgedruckte Artikel der New York Times vom 21. 9. 2002 bringt die Mitwirkung Belgiens an der Ermordung Lumumbas im Jahr 1961 zur Sprache, die den Zugriff auf die Bodenschätze retten sollte.

Der Weg nach Tervuren, zwischen Leuven und Brüssel gelegen, lohnt trotzdem auch für „Mea culpa“-Anhänger, denn nirgendwo sonst findet man eine so reiche Dokumentation der zentralafrikanischen Kultur und Natur, in die dieser Ansatz der Vergangenheitsaufarbeitung eingebettet ist. Auch in diesem Fall gilt: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Denn die in den deutschen Kolonien begangenen Verbrechen sind hierzulande ebenfalls immer noch unterbelichtet, obwohl sie das rassistische Denken so folgenreich festigten. URSULA WÖLL

Bis 9. Oktober, Begleitbuch (niederl. oder französ.) 39 €, deutsche Broschüre frei