: Kunst ist eineWissenschaft für sich
In Göttingen verschränkt Video-Künstlerin Emilija Škarnulytė forschungsbasierte Ansichten des Realen mit menschenfreien fantastischen Architekturen. So erkundet die Litauerin Zusammenhänge zwischen Umweltzerstörung und Geopolitik
Von Bettina Maria Brosowsky
Fast könnte der Eindruck entstehen, dass kaum noch ein:e Künstler:in ohne die Zusammenarbeit mit den verschiedensten Disziplinen avancierter Wissenschaft eigene relevante Werke zu verfassen vermag. Erst kürzlich waren im Kunstverein Braunschweig die künstlerischen Forschungen von Dennis Siering zu Pyro- und Mikroplastik in den weltweiten Ozeanen ausgestellt. Oder Julius von Bismarck, auch er ist ja durch den 2017 erhaltenen Kunstpreis der Städtischen Galerie Wolfsburg kein Unbekannter im Norden.
Er ließ schon mal Raketen ins Gewitter schießen, um Blitze zu provozieren, dokumentiert kontinuierlich Waldbrände oder Sturmgewalten und botanisiert weltweit. Für die Kunstmesse Art Basel setzte er sich 2015 in einer knapp zimmergroßen, rotierenden Parabolschüssel fast eine Woche lang einer – maßvollen – Fliehkraft aus: das personifizierte physikalische Experiment.
Aber auch umgekehrt scheinen Forschungseinrichtungen Interesse an der Reflexion ihrer Arbeit durch Künstler:innen zu haben. Prominentestes Beispiel: verschiedene Stipendien eines Artist-in-Residence-Programms am internationalen Cern-Kernforschungszentrum bei Genf. Dort wird physikalische Grundlagenforschung betrieben, insbesondere wird der Aufbau der Materie mit Hilfe großer Teilchenbeschleuniger erforscht. Ein erster Stipendiat war 2012 übrigens Julius von Bismarck, er durfte dort dem Theoretischen Physiker James Wells über die Schulter schauen.
Auch bei der litauischen Künstlerin und Filmemacherin Emilija Škarnulytė dreht sich manches um das Cern, wenn auch ohne offizielles Stipendium. Das Kunsthaus Göttingen stattet ihr gerade eine große Einzelausstellung aus, die unter anderem zwei sehr aufwendige audiovisuelle Videoproduktionen in eigens dafür zugeschnittenen Rauminstallationen umfasst. Denn auch das gehört zum Programm der Göttinger Institution des Verlegers Gerhard Steidl: neben der Fotografie und Arbeiten auf Papier widmet es sich den Neuen Medien.
Škarnulytė, 1987 in Vilnius geboren, hat in Mailand und im norwegischen Tromsø unter anderem Bildhauerei studiert. Aber klassisch Skulpturales ist bei ihr eher Beiwerk geworden. Sie thematisiert lieber die Auswirkungen technologischer und wissenschaftlicher Entwicklungen auf die Erde, untersucht die komplexen Zusammenhänge zwischen Ressourcennutzung, Umweltzerstörung und Geopolitik.
Dabei geht sie aber nicht knochentrocken und streng dokumentarisch vor. Stattdessen verschränkt Škarnulytė Reales mit computergenerierten Fiktionen und fantastischen Architekturen. Eines aber fehlt konsequent: der Mensch. Denn ihre Videos beziehen die Perspektive einer zukünftigen posthumanen Spezies, die durch die mysteriös anmutenden, teils ruinösen, teils von der Natur überwucherten Hinterlassenschaften des Anthropozäns streift, also jenes aktuellen Erdzeitalters, das sich die Welt durch massive menschengemachte Eingriffe und Umgestaltungen Untertan gemacht hat.
Für ihren 18-Minüter „t ½“ hat Škarnulytė dann auch im Cern gedreht. Allerdings kommt es als verlassene Stätte rüber. Der Titel stammt aus der Physik, bezeichnet die Halbwertzeit eines Kernteilchens. Und die Strahlungsemissionen der Atomenergie haben Familie Škarnulytė ganz hautnah betroffen. Die Künstlerin erzählt, dass ihre Großmutter, ebenfalls Künstlerin, 1986 das komplette Augenlicht verlor, wahrscheinlich eine Folge des Reaktorunfalls im ukrainischen Tschernobyl. Eben deshalb zog es die Enkelin zum Filmen in das, Gott sei Dank, stillgelegte litauische Kernkraftwerk Ignalina. Auch verwendet sie Bildmaterial aus einem Neutrino-Observatorium in Japan. In dem werden physikalische Elementarteilchen und Zerfallsprozesse erforscht.
Aber Škarnulytė erkundet auch die Kanäle am Polarkreis, die nukleare U-Boote nutzen. Als Fabelwesen diverser Wasserwelten taucht eine Meerjungfrau auf, von der Künstlerin selbst verkörpert. Sie hat dafür das Apnoetauchen mit Monoflosse gelernt. Solche Wassergestalten sieht Škarnulytė als Evolutionszwischenstand zukünftiger Erdenbewohner, schließlich sei auch der Mensch vor Urzeiten einmal dem kühlen Nass entsprungen. Glücklich ist diese Meerjungfrau allerdings nicht. Sie weint überdimensionale Tränen aus Glas: plastische Objekte Škarnulytės, die an verschiedenen Stellen ihres sich über drei Stockwerke spannenden Parcours’durchs Kunsthaus auftauchen. Der will als Abfolge von Meeresboden – das Erdgeschoss mit reflektierenden gläsernen Volumen imaginierter Datenspeicher –, erstes Obergeschoss als Erdoberfläche und zweites Obergeschoss als Himmel oder digitale Cloud gelesen werden.
So ganz synchron sind dann Škarnulytės Filme doch nicht. Ganz oben geht es wieder unter Wasser. In einem bedrückend faszinierenden Video taucht man ein in eine riesige Datenspeicherlandschaft am Meeresboden. Erste Versuche, die immensen Kühllasten einer immer weiter digitalisierten Welt in dieser Form zu handhaben, sollen einschlägige Großkonzerne bereits unternommen haben, erläutert Škarnulytė. Für den administrativen Teil über Wasser hat sie, zusammen mit dem Architekten Linas Lapinskas, dann einen Phänotyp historischer Herrschaftsarchitekturen bemüht, den Rundbau.
Er beflügelte sogenannte Revolutionsarchitekten jeglicher Couleur, fand etwa um 1780 in der unvollendeten Idealstadt Chaux von Nicolas Ledoux zu städtebaulicher Dimension. Visionär waren in den 1960er-Jahren sicherlich noch die US-amerikanischen Bell Labs, in dem kalifornischen Apple Park fand der hermetische Ring um 2020 sein eher dystopisch monopolkapitalistisches Finale. Fragt sich: bleibt einzig das von der Menschheit Wirken in Erinnerung?
Ausstellung Emilija Škarnulytė. Multimedia-Installationen & Skulpturale Objekte, Kunsthaus Göttingen, bis 21. April, Begleitprogramm unter:kunsthaus-goettingen.de
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