Vor allem dagegen!

WAHLEN Die Franzosen entscheiden über ihr Staatsoberhaupt. Doch im Vorfeld ging es mehr um Inszenierung als um Inhalte

■ Regelmäßig betont der Nachrichtensprecher des Senders France 2, die Wahlumfragen seien „keine Voraussage der Ergebnisse, sondern eine Momentaufnahme“. Kein Wunder: 34 Prozent der Befragten haben laut Meinungsforschern noch keine definitive Wahl getroffen, 48 Prozent hätten im Verlauf der Wahlkampagne bereits ihre Meinung geändert, und am Ende gehen mehr als 30 Prozent sowieso nicht wählen.

■ Trotzdem: Seit Wochen wird der Sozialist François Hollande als Sieger im zweiten Durchgang gesehen. Für den ersten Wahlgang am Sonntag lag er am Dienstag laut dem Institut CSA mit 29 Prozent deutlich vor Nicolas Sarkozy (24 Prozent). Die Umfrage für das Finale am 6. Mai sieht Hollande sogar mit 58 zu 42 Prozent vorn.

■ Marine Le Pen kann laut CSA mit 17 Prozent, der Kandidat der Linksfront, Jean-Luc Mélenchon, mit 15 Prozent und der Zentrumsdemokrat François Bayrou mit 10 Prozent rechnen. Die Grüne Eva Joly bleibt bei knapp unter 2 Prozent (siehe rechts). Die übrigen vier spielen mit etwa 1 Prozent keine Rolle.

AUS PARIS RUDOLF BALMER

Wie jedes Mal ist auch bei den Präsidentschaftswahlen an diesem Sonntag das Interesse der Franzosen groß. Die Fernsehdebatten und Talkshows mit den Kandidaten lockten jeweils Millionen vor den Bildschirm. Natürlich erhofften sich – geplagt von Alltagsproblemen und Zukunftsängsten – die Bürger von den Kandidaten konkrete Vorschläge. Letztlich sind sich die meisten aber bewusst, wie gering der Spielraum der kommenden Regierung im Kontext der Krise sein wird.

Die Kampagne hat die meisten Franzosen und Französinnen enttäuscht. Dementsprechend äußern sich die Wähler der beiden Favoriten zu ihrer Hauptmotivation: Eine Mehrheit der Hollande-Sympathisanten sagt, sie wollten vor allem Sarkozy abwählen. Auf der Gegenseite erklären viele Sarkozy-Treue, sie wollten die Wiederwahl des jetzigen Präsidenten, um zu verhindern, dass mit Hollande die Linke an die Macht gelangt.

Das französische Wochenmagazin Marianne stellte vor kurzem ein ganzes Dossier mit den „dicksten Lügen“ der Kandidierenden zusammen. Ganz oben dabei: Der Präsident, der einmal mehr versichert, er habe sich gewandelt und werde „ein anderer Präsident“ (als bisher) sein oder auch alle Reformen verwirklichen, die liegen geblieben sind. Und wenn er sich angegriffen fühlt, wie beispielsweise wegen seiner wechselhaften Beziehung zu Gaddafi, nimmt er es mit der Wahrheit nicht so genau: „Niemals wäre es für mich infrage gekommen, Gaddafi ein AKW zu verkaufen.“ Dabei sind die Verhandlungen über den von ihm gewünschten Verkauf der Atomtechnologie nach Libyen mit Dokumenten belegt. Für eine Mehrheit der Franzosen klingen die nicht gehaltenen Versprechen von 2007 heute wie eine einzige große Lüge.

■ Als Atommacht und Veto-Staat im Weltsicherheitsrat darf sich Frankreich immer noch als (mittlere) „Grande Nation“ fühlen. Vom einstigen Kolonialreich sind noch einige „Konfetti“ geblieben (Inseln in der Karibik, im Indischen Ozean und im Südpazifik)

■ Demografie: Frankreich stellt nur 0,4 Prozent der Erdoberfläche und mit 65 Millionen Menschen 1 Prozent der Weltbevölkerung. Doch die Bevölkerung wächst und liegt mit einer durchschnittlichen Geburtenrate von 2 Kindern pro Frau europaweit vorne. Im Jahr 2050 wird Frankreich Deutschland (knapp 82 Millionen Einwohner) überholt haben.

■ Wirtschaft: Der Anteil der französischen Exporte am Welthandel ist in zehn Jahren von 4,1 auf 3,2 Prozent gesunken, die Außenhandelsbilanz war 2002 mit plus 3,5 Milliarden Euro noch positiv, verzeichnete Ende 2011 aber ein Rekorddefizit von 70 Milliarden Euro. Die offizielle Arbeitslosenrate ist von 8,6 Prozent (2002) nach einer kurzfristigen Besserung auf ein Höchstniveau von mehr als 10 Prozent gestiegen. Real sind 5 Millionen Menschen erwerbslos.

■ Highlights der Sarkozy-Jahre: 2007: Wahlsiegesfeier mit reichen Freunden im „Fouquet’s“, Empfang von Gaddafi in Paris 2008: Heirat mit Carla Bruni, EU-Vorsitz (Gründung der „Mittelmeerunion“) 2009: Debatte über nationale Identität 2010: Bettencourt-Affäre mit Verdacht illegaler Spenden, Rede in Grenoble zur Eröffnung der Jagd auf Roma, Sarkozys Rivale Villepin von Verleumdung freigesprochen 2011: Burka-Verbot tritt in Kraft, Beginn der militärischen Intervention in Libyen

Nicht viel glaubwürdiger kommt indes der Vorschlag von Hollande daher, trotz Sparzwängen unter anderem 60.000 Stellen in der Bildung und 150.000 Einstiegsjobs für Junge zu schaffen. Trotzdem verspricht er: „Ich werde nicht der Präsident sein, der sechs Monate nach der Wahl vor die Franzosen tritt und alle Versprechen verleugnet, weil er mit Schrecken feststellt, dass die Kassen leer sind.“ Er hat (wie die anderen acht) den Vorteil, nicht mit einer Bilanz antreten zu müssen.

Die Anhänger von Marine Le Pen vom rechtspopulistischen Front National, des Linksfront“-Kandidaten Jean-Luc Mélenchon oder des Zentrumsdemokraten François Bayrou ahnten längst, dass es am Sonntag wohl nicht reichen würde für die Sensation einer Qualifikation für die Stichwahl. Und der dritte Platz, um den sich diese drei am Ende noch streiten, ist nicht mehr als eine Prestigefrage. Total frustriert sind schon jetzt die Grünen. Ihrer Kandidatin Eva Joly ist es überhaupt nicht gelungen, die Klima- und Umweltfragen sowie die Atomkraft ins Zentrum der Kampagne zu rücken.

Von Freitag auf Samstag heißt es ab Mitternacht für alle wie im Spielkasino: „Les jeux sont faits, rien ne va plus“. Die Karten liegen auf dem Tisch, der Wahlkampf ist bis zur Verkündung der Resultate beendet, Wahlwerbung nicht mehr erlaubt. Vor dem Schlusspfiff kam aber noch Hektik auf. Präsident Sarkozy rief seinen Amtskollegen Barack Obama an, der in diesem Jahr auch um seine Wiederwahl bangen muss. „We will win, Mr Obama. You and me. Together!“, rief in seinem sehr elementaren Englisch der Franzose per Videokonferenz nach Washington und ließ diesen rührenden Aufruf zur Solidarität unter Staatschefs filmen und an die Medien verteilen. Was der amerikanische Präsident auf diesen Appell erwiderte, wurde nicht publiziert. Auch vor der Menge seiner Anhänger auf der Place de la Concorde am letzten Sonntag lancierte Sarkozy einen Hilferuf. Angesichts einer drohenden Wahlniederlage sieht er gleich ganz Frankreich in Gefahr: „Françaises, Français, aidez-moi, aidez la France!“ (Helft mir, so helft ihr Frankreich!)

Sarkozy oder das Chaos, das ist auch nach Ansicht von Premierminister François Fillon die wahre Alternative, vor der die Wähler stehen. Im Fall eines Sieges des Sozialisten werde die Spekulation der Finanzmärkte „Frankreich in zwei Tagen in die Knie zwingen“, dramatisierte Fillon. Man erinnert sich in Frankreich da spontan an Exminister Michel Poniatowski, der 1981 bei einer Niederlage seines liberalen Kandidaten Valéry Giscard d’Estaing und einem Sieg des Sozialisten François Mitterrand die Panzer des Warschauer Pakts auf den Champs Élysées auffahren sah. Eine viel direktere und eher handgreifliche Befürchtung hatte Sarkozy auf der Concorde. Bevor er sich in die Masse seiner Fans begab, um die Hände zu schütteln, streifte er vorsichtshalber seine Armbanduhr ab und steckte sie ein. Das Schmuckstück soll immerhin 50.000 Euro gekostet haben!

MARINE LE PEN, Alter: 43, Profil: rechte Hardlinerin, Partei: Front National, Ziel: Euro abschaffen, Einwanderung beschränken, Protektionismus, Perspektive: 16,8 Prozent (besser als ihr Vater 2002), Empfehlung für Stichwahl: keine

JEAN-LUC MÉLENCHON, Alter: 60, Profil: linker Volkstribun, Partei: Linksfront, Ziel: Sozialreformen, Ablehnung der Sparpolitik und des EU-Fiskalpakts, Perspektive: 15 Prozent, eventuell Regierungsbeteiligung mit Sozialisten, Empfehlung für Stichwahl: Hollande

FRANCOIS BAYROU, Alter: 60, Profil: Mann in der fiktiven Mitte, Partei: Mouvement Démocrate, Ziel: eines Tages Präsident werden, Schuldenabbau trotz Sozialstaat, Perspektive: 10 Prozent (2007: 18,6), Empfehlung für Stichwahl: weder – noch

EVA JOLY, Alter: 68, Profil: die grüne Enttäuschung, Partei: Europe-Ecologie-Les Verts (Grüne) Ziel: Ausstieg aus der Atomkraft, erneuerbare Energien, Kampf gegen Steuerflucht und Korruptionsjägerin, Perspektive: 1,6 Prozent, Empfehlung für Stichwahl: Hollande

Hollande, der für die Umfragen derzeit als Sieger feststeht, hat nun plötzlich haufenweise neue Freunde aus Überzeugung – oder Opportunismus. Schon früh hatte der ehemalige Staatschef Jacques Chirac gesagt, er werde Hollande wählen. Man nahm das zuerst als Scherz, doch seither hat er das laut Mitarbeitern bestätigt. Mehrere vormalige Minister von Chirac zogen nach: nach dem Exkulturminister Jean-Jacques Aillagon und der ehemaligen Umweltministerin Corinne Lepage auch der Schriftsteller und Exstaatssekretär Azouz Begag sowie die frühere Ministerin für Überseegebiete, Brigitte Girardin; die beiden sind enge Vertraute des ehemaligen Premierministers Dominique de Villepin, der sich noch in Schweigen hüllt. Auch zwei frühere Regierungsmitglieder von Sarkozy, Martin Hirsch und Fadela Amara, haben erklärt, sie wollten nun lieber Hollande als Präsidenten.

Sarkozy hatte mit den Attentaten von Toulouse die Chance, seine Autorität und sein Image als Sicherheitspolitiker und Terrorismusbekämpfer zu festigen. Stattdessen versuchte er die Rechtsextremistin Marine Le Pen zu überbieten, die derzeit auf Platz drei liegt. Das Magazin Time jedenfalls verabschiedete sich bereits auf der Titelseite mit einem „Adieu?“ von Sarkozy.