Gemeindevorstand über Judenhass: „Antisemiten gehören zu Normalität“

Seit über 20 Jahren ist Grigori Pantijelew Vize-Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Bremen. Er fordert mehr Taten gegen Judenhass ein.

Porträt von Grigori Pantijelew auf einer Solidaritäts-Demo nach dem 7. Oktober

„Wenn in meiner Stadt etwas schief läuft, mische ich mich ein“: Grigori Pantijelew Foto: Sina Schuldt/dpa

taz: Müssen wir wirklich noch über den Hannah-Arendt-Preis 2023 reden?

Grigori Pantijelew: Persönlich würde ich mich auch lieber nicht mehr damit befassen müssen.

Aber?

Das mediale Echo der aktuellen Preisverleihung an Masha Gessen war zu groß dafür, und sie erinnerte mich sofort an die einseitige Debatte um die Tony-Judt-Peisverleihung 2007. In beiden Fällen wurde die starke mediale Blase, die damit erzeugt wurde, von denjenigen, die israelfeindliche Positionen teilen, als Erfolg gewertet. Wenn wir sie vergessen, sind sie traurig.

Dann wäre doch Stillhalten das Beste?

Leider nein. Denn der Preis ist nun mal eine bremische Institution. Und ich fühle mich hier heimisch und betroffen: Wenn in meiner Stadt etwas schief geht, reizt mich das, mich einzumischen und eben auch nachzuhaken, warum es nicht besser wird.

Hätte der Preis also doch eine größere Bühne gebraucht, um die Auseinandersetzung kritisch und mit Gegenposition zu führen?

Nein. Das hätte nur bedeutet, beide auf dieselbe Ebene zu setzen: Den Juden, der für Israel als Staat der Juden auftritt, und den Antisemiten, der sagt, Israel soll verschwinden. Die dürfen dann miteinander diskutieren, als ginge es um gleichwertige Ansichten. Dem widerspreche ich. Die Äquivalenz soll nicht die Methode einer solchen Diskussion sein. Wer das gleichsetzt, verbreitet nur Übel in der Welt. Das sollte man nicht tun.

Es hatte schon mehrfach ähnliche Kontroversen um den Preis gegeben, vor allem bei Tony Judt, der den Staat Israel als Anachronismus bewertet hatte: Folgt die Vergabe einem Schema?

Es ist eher ein Modus Vivendi, der beibehalten wird. Vor 16 Jahren, als Judt den Preis bekommen hatte, war dieses Problem schon einmal aufgetaucht, mit derselben Ignoranz seitens der Jury. Mit seinem Schaffen als Historiker hatte er weniger Furore gemacht als mit seiner Ablehnung von Israel, trotzdem ging die Auszeichnung an ihn, ohne dass diese Position mit irgendeinem Wort erwähnt worden wäre …

Jahrgang 1958, Musikwissenschaftler und Dozent, ist seit mehr als 20 Jahren stellvertretender Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Bremen.

Dabei ist es ein Preis für politisches Denken, nicht für ein einzelnes Werk.

Ja. Es wurde erst thematisiert infolge unseres Protests. Und es ist traurig, dass sich die Geschichte jetzt so wiederholt. Dabei wäre das so leicht zu lösen.

Wie das denn?

Die einfachste Lösung ist: Den Antisemitismus in die Privatheit zurückzudrängen. Der Staat, die Stadt Bremen, die öffentlichen Gelder sollten damit einfach nichts zu tun haben. Denn selbstverständlich dürfen alle ihre eigene Meinung haben. Antisemiten gehören zur gesellschaftlichen Normalität, aber sie sind privat. Wenn der Staat sie fördert, wird der Staat seinem Anspruch nicht gerecht.

Wäre der Arendt-Preis eine antisemitische Veranstaltung?

Es zeugt in Bremen von schlechtem Geschmack, Antisemiten als Antisemiten zu bezeichnen. Das ist hier eine kleine Stadt. Man nimmt hier öffentliche und soziale Verpflichtungen gemeinsam wahr. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Antisemit hier beim Namen genannt worden wäre. Es wirkt wie ein Furz in der Luft, auch nur das Wort Antisemit auszusprechen. Insofern würde ich lieber weiterschlafen, solange es nur mich betrifft. Aber als Vertreter der Jüdischen Gemeinde muss ich mich wiederholen: Der Antisemitismus darf nicht öffentlich subventioniert werden.

Wo soll denn der Cut stattfinden?

Es ist immer schwierig zu bestimmen: Wo endet die freie Meinung, wo beginnt die Obsession. Es hat Versuche gegeben, das auszutragen: Die Deutsch-Israelische Gesellschaft hatte sich vor Jahrzehnten mit einzelnen Vertretern des sogenannten Friedensforums zusammengesetzt, um diesen Konflikt zu bearbeiten.

Und?

Man konnte sich noch nicht einmal auf die Verwendung derselben Begriffe einigen. Die intellektuelle Klärung ist dann nicht möglich. Also bleibt es bei der freundlichen, höflichen Art, einander zu dulden, als wäre es möglich, hier eine bizarre Äquivalenz herzustellen. Die meisten Medien Bremens machen da mit: Wenn also eine Demonstration zum Konflikt im Nahen Osten stattfindet, ist es üblich, Vertreter der Jüdischen Gemeinde aufzusuchen, und zu sagen: Bitte erzählen Sie, was Sie für Ängste haben. Und dann wird das kommentiert von einem Spezialisten für Antisemitismus, in der Regel einem ehemaligen SPD-Abgeordneten, der jahrelang den Weser-Kurier mit Material versorgt hat, bis schließlich die Chefredakteurin gemerkt hat, wie wenig er dafür geeignet war.

Ist das kein Fortschritt?

Für das TV-Magazin „buten un binnen“ von Radio Bremen bleiben solche angeblichen Fachleute eine Autorität. Sie wissen, was für empfindliche Menschen die seltsamen Juden sind. Das ist der Teufelskreis, in dem wir uns befinden: Wenn man versucht, die Sache zu klären, schadet das dem Frieden in dieser Stadt, und das wollen wir nicht. Wir wollen nicht, dass es knallt.

Positiv ausgedrückt?

Wir arbeiten daran, als Jüdische Gemeinde mit allen respektvoll umzugehen. Dort, wo es gelingt, bin ich sicher, dass es ein Pfand des Friedens ist. Zugleich möchte ich, dass sich die Menschen auf den Straßen wohlfühlen und nicht mit Hassparolen konfrontiert werden. Ich möchte, dass die judenfeindlichen Graffitis schneller beseitigt werden – und zwar nicht nur durch die Polizei. Aber was ich erlebe, ist, dass gute Worte in der Bürgerschaft gefunden und ausgesprochen werden, und dann passiert nichts, bis zwei Jahre später wieder gute Worte in der Bürgerschaft ausgesprochen werden, als wären sie neu – und es passiert wieder nichts. Wir bleiben gefangen in diesem Kreis, sodass die Vertreter einer falsch verstandenen Meinungsfreiheit eigentlich mehr zu hören sind als diejenigen, die unter diesen Umständen zu leiden haben.

Wie lässt sich damit umgehen?

Da gibt es zwei Varianten. Die bundesweit übliche ist, den Antisemitismusbeauftragten in Gang zu setzen, tief zu atmen und zu sagen: Endlich haben wir das Problem aus der Welt geschaffen. Es wird dann eine Straße umbenannt. Und das war’s.

Okay. Und die bessere?

Besser wäre zu schauen, was man bei sich selbst und im eigenen Umfeld tun kann. Und es explizit in der ersten Person sagen: insbesondere, wenn ich an der Spitze einer Institution stehe. Das anzusprechen ist aber verpönt. Das Buch von Margarete und Alexander Mitscherlich über die Unfähigkeit zu trauern, über das infantile Verhältnis zur Selbstverantwortung wird ja nicht mehr gelesen. Man bleibt lieber beim Gefühligen.

Das klingt selbst auch unkonkret. Welche Maßnahmen lassen sich ergreifen?

Ich plädiere für systemisches Denken. Die langfristige Planung in der Demokratie soll möglich sein. Wenn wir davon ausgehen, dass Antisemitismus eine gesellschaftliche Krankheit ist wie ein Virus, den laut Soziologie bis zu 16 Prozent der Bevölkerung Europas latent in sich tragen, ist es sinnvoll, etwas gegen dessen Ausbruch zu unternehmen.

Das heißt?

Das heißt, es geht um Erziehung und auch darum, wie die familiären Prägungen seit 2015 ausgeglichen werden können. Und eigentlich glaube ich, jeder weiß, was da zu tun ist, und umso besorgniserregender ist es zu sehen, wie die Institution Kindergarten und das staatliche Erziehungssystem bröckeln: Bei Kindern ist es jedenfalls noch möglich, Toleranz und Respekt zu fördern. In der Schule wird es schon schwierig, im Studium ist es wahrscheinlich zu spät.

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