Lücke geschlossen

Aktueller Stand: Die Initiatoren des Forschungsprojekts „Der Ort des Terrors“ präsentieren Ergebnisse zu den Strukturen des nationalsozialistischen Lagersystems – morgen im Literaturhaus

von Andreas Blechschmidt

Als am 10. Mai in Berlin das Denkmal für die ermordeten Juden Europas der Öffentlichkeit übergeben wurde, erklärte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, dass die Juden das Denkmal nicht unbedingt bräuchten. Für die jüdische Gemeinschaft seien die ehemaligen Konzentrationslager, die Rampen und die Erschießungsplätze die authentischen Stätten der Erinnerung.

Tatsächlich sind Konzentrations- beziehungsweise Vernichtungslager Synonyme für die Verbrechen während der nationalsozialistischen Herrschaft im öffentlichen Bewusstsein. Ortsnamen wie Neuengamme, Dachau oder der des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau gelten als topographische Repräsentanten der NS-Diktatur. Dennoch sind die meisten der 24 Hauptlager, vor allem aber die etwa 1.000 Außenlager überwiegend aus der öffentlichen Erinnerung verdrängt worden. Bis in die 1980er Jahre hinein war es mehr oder weniger das alleinige Verdienst überlebender Häftlinge, die Geschichte vieler Lager zu dokumentieren und die Erinnerung wach zu halten.

Mit dem Forschungsprojekt „Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager“ wird diese Forschungslücke geschlossen. In einer auf sieben Bände angelegten Gesamtdarstellung wird die Geschichte der Konzentrationslager und der zahlreichen Außenlager dokumentiert. Aus Anlass der Veröffentlichung des ersten Bandes, Die Organisation des Terrors, bei C. H. Beck werden die Herausgeber – Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin, und Barbara Distel, Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau – ihr Forschungsunternehmen am Dienstag im Literaturhaus vorstellen. Ebenfalls dabei sein wird Detlev Garbe, Leiter der mitveranstaltenden KZ-Gedenkstätte Neuengamme, sowie der Zeitzeuge Gebhard Kraft.

Der Band befasst sich mit unterschiedlichen Aspekten des Systems der nationalsozialistischen Lager und repräsentiert damit den aktuellen Forschungsstand zu den Strukturen des KZ-Systems. In seinem einleitenden Beitrag weist Wolfgang Benz jedoch darauf hin, dass es „entgegen landläufiger Meinung, die Geschichte der Konzentrationslager und der anderen nationalsozialistischen Zwangslager sei gründlich erforscht, (...) noch zahllose weiße Flecken bei der Kartierung unseres Wissens über Glieder und Formen des Repressionsapparates“ gebe.

So sei zwar beispielsweise bekannt, dass es allein in Hessen mehr als 606 Lager, darunter zwei frühe KZ, sechs KZ-Außenlager, Arbeitsumerziehungslager, Kriegsgefangenen- und Zwangsarbeiterlager gegeben hat. Doch die genaue Gesamtzahl der Opfer in den Lagern unter der Verantwortung lokaler Gestapo- und SS-Stellen ist bis heute nicht bekannt. Der siebte und letzte Band der Reihe wird sich daher auch solchen NS-Lagern widmen, die selbst in der Fachforschung bisher kaum erfasst worden sind.

Obwohl nämlich die zahlreichen Arbeitserziehungs-, Jugendschutz-, Polizeidurchgangs- und Gestapolager sich in Haft- und Überlebensbedingungen nur graduell von KZ unterschieden, wird ihre Existenz als Teil des KZ-Systems von Politikern und Bürgern bis heute immer wieder bestritten. Diese Abwehr reicht bis hin zu Bundesbehörden: 1990 verneinte das Bundesfinanzministerium den Zwangscharakter eines „Zigeunerlagers“ für Roma und Sinti in Berlin-Marzahn. Obgleich die meisten Insassen ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden, sprach die Bundesbehörde von einem „Sammelplatz“ und „Zigeunerrastplatz“. Aus dem erzwungenen Aufenthalt ließen sich keine Entschädigungsansprüche ableiten.

Wolfgang Benz und Barbara Distel (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 1: Die Organisation des Terrors. München 2005, 395 Seiten, 59,90 Euro. Präsentation mit Herausgebern und Gästen: Di, 7. 6., 20 Uhr, Literaturhaus