Der Leere davonlaufen

Viel Stoff für cultural studies: Das Festival In Transit sucht im Haus der Kulturen der Welt wieder nach Heimat im Körper

Diese Füße! Wie viel Kraft und Entschlossenheit da bis in den großen Zeh fließt und darüber hinausstrahlt. Dann biegt sich dieser eben noch wie eine geladene Waffe gespannte Fuß, krümmt sich wie die Finger einer Hand und hakt sich irgendwo fest, an einem Schemel, unter der Achsel des nächsten Tänzers und hält den ganzen Körper, der sich jetzt mit Armen und Händen nach vorne zieht, als gälte es, aus einem tiefen Loch zu entkommen.

Es ist eine dunkle Folie der Armut und des Mangels, die diesen Bildern des Drängens und Ziehens ihre prägnanten Konturen gibt. Diese Tänzer kommen aus Sibirien, der Industriestadt Tscheljabinsk, ihre Choreografin Olga Pona hat von dort aus dem zeitgenössischen Tanz in Russland eine neue Chance gegeben, für die sie jetzt auf Gastspielreisen viel Anerkennung erfährt.

Auf dem Festival In Transit im Haus der Kulturen der Welt repräsentieren sie das Thema Heimat und Identität in seltener Klarheit. Nicht nur, weil zwei Sänger russische Volksweisen über einen Klangteppich aus industrial sounds und Techno schieben, nicht nur weil einmal ein stilisiertes Birkenwäldchen die Kulisse stellt. Sondern mehr noch, weil in Ponas Ästhetik die Tradition wie ein Gebiet, dem man eben erst entkommen erst, spürbar bleibt.

In den Körpern der Tänzer ist noch die Spur der Helden gegenwärtig, der Traumprinzen aus den klassischen Stücken der Ballets Russes ebenso wie der Denkmäler für den Proletarier. Etwas erinnert an den in Stein gehauenen und in Metall gegossenen Willen zur Zukunft des sozialistischen Realismus in den verketteten Körpern in Ponas Choreografie „Staring into eternity“. Operationen der Verflechtung, Bindeglieder aufbauen, übereinander klettern und steigen, sich halten und aufbauen, Impulse weiterleiten: etwas wird unaufhörlich bearbeitet, eine Form umgeschmiedet, eine Kraft, die nach neuen Kanälen sucht und sich in ihren alten Betten um und um wälzt. Eines der mitgebrachten Stücke bezog sich auf die Situation des Wartens, die das Arbeiten abgelöst hat, das andere, „Nostalgia“, begibt sich auf die Suche nach Erinnerungen. Aber selbst in den Momenten, in denen Pona von der Verurteilung zu Passivität und der depressiven Leere des Ziellosen erzählen will, geschieht das mit so viel Unruhe und Nervosität des Drängens zum Aufbruch, dass diese Dynamik haften bleibt.

Sibirien war bisher ein weißer Fleck auf der Landkarte des Tanz- und Performance-Festivals In Transit, das dieses Jahr zum vierten Mal stattfindet. Seine geografischen Schwerpunkte liegen auch diesmal wieder in den hybriden Kulturen Asiens und in Afrika. Die Verbindungen nach Japan sind gut ausgebaut, und durch Gastspiele hier, aber auch durch Filme und Literatur sind die Erwartungen an Produktionen aus Tokio gestiegen. Daran gemessen fiel das gut angekündigte Stück „Ghostly Round“ der Gruppe Leni-Basso allerdings ab.

Sein Thema, wie der Körper des Individuums vom Tanz wie „ein Parasit befallen“ wird, wie die Choreografin Akiko Kitamura in einem Interview des tip erzählte, blieb blass. Zwar wirkten die Tänzer oft fremdgesteuert, wie Aliens und Mischwesen aus den Generationen der Menschmaschinen. Woher die Energieströme aber kamen, die sie besetzten, welche Geister in ihnen lebendig wurden, blieb vage. Vielleicht lag es daran, dass die Musik, die mit vielen special effects der spacigen Art angereichert war, stets schon eine große Theatralik vor sich herschob, die zu illustrieren die Choreografie sich etwas atemlos mühte, statt ihr eigenes Maß an Zeit und Raum dagegen entfalten zu können. Vielleicht auch, weil die Bewegungen oft gerade dort, wo sich das Tempo steigerte, in eine schnatternde und verschnörkelte Geschwätzigkeit umkippten.

KATRIN BETTINA MÜLLER

In Transit geht am Dienstag und Mittwoch weiter mit Tanzstücken aus Tunis, ab Donnerstag Theater aus Indonesien