Den Jagdinstinkt lernen

Nicht Schaf sein, sondern Wolf werden: Wie man „bis zum letzten Blutstropfen kämpft“ und ein „harter Bursche“ wird, schauen sich die Chinesen jetzt von Jiang Rongs Roman „Wolf Totem“ ab

VON WEI WUTAI

Kann es sein, dass die Chinesen schon nach 27 Jahren NEP (Neuer Ökonomischer Politik) nicht mehr alle Tassen im Schrank haben? Die chinesischen Kulturfunktionäre sprechen von einem Marktwunder, weil sie sich nicht erklären können, wie ein solch langatmiger Roman in wenigen Monaten über 500.000 Mal verkauft werden konnte: Er handelt ausschließlich von einem Tier, beinhaltet keine Sex- oder Liebesszenen und wurde zudem noch von einem bisher völlig unbekannten Autor geschrieben.

Die Rede ist von Jiang Rong und seinem Buch „Wolf Totem“, in dem es um die Philosophie und Moral des „Wölfisch-Werdens“ geht. Sein Verlag Yangtse inszenierte als Werbemaßnahme einen heftigen Streit unter Kritikern, TV-Prominenten und erfolgreichen Geschäftsleuten über den Hauptgedanken des Autors: „Für die heutigen Chinesen ist es notwendig, vom Geist des Wolfes zu lernen!“ Inzwischen findet man im Google unter den chinesischen Wörtern „Wolf Totem“ und „Jiang Rong“ 90.000 Eintragungen.

Die Hauptfigur des Romans ist Chen Zhen, ein junger Mann, der während der Kulturrevolution (1966–76) Peking verlassen hatte und sich im Autonomen Gebiet der Inneren Mongolei niederließ. Dort wurde er mit dem ihm bis dahin fremden „Ethos der Steppe“ konfrontiert. Chen Zhen findet in der mongolischen Steppe heraus, dass die Wölfe dort in einer seltsamen und genauen Verbindung zu den Menschen stehen. Nur wenn man diese verstehe, so meint er, komme man auch der geheimnisvollen Region und ihren nomadischen Bewohnern auf die Spur.

Die Steppe ist schon seit Urzeiten die Heimat der Wölfe: Chen bemüht sich um eine genaue Kenntnis ihres Lebensraumes, in dem man sie zuletzt fast ausrottete. „Im Buch gibt es Dutzende dramatischer Geschichten, die von der Überlebensfähigkeit, Treue und Opferfähigkeit der Wölfe zeugen“, schreibt die China Daily.

Die mongolischen Viehzüchter sehen im Wolf einen Adoptivsohn von Tengri, dem Himmel – der höchsten Macht im Kosmos. Die Tiere verkörpern für sie alle Fähigkeiten, die man für den harten Überlebenskampf in der Steppe brauche – auch der Mensch. In ihrer Gewitztheit, ihrem Mut und ihrer Geduld sind sie unschlagbar, ebenso aber auch in ihrer Aggressivität, Unbarmherzigkeit und Widerstandsfähigkeit. Gleichzeitig verletzten sie jedoch niemals die Spielregeln, das heißt, sie töten nur, wenn sie hungrig sind, und zerstören nicht das natürliche Gleichgewicht in der Steppe.

Viele Leser sind vor allem angetan von der traurigen Eloge auf das verschwundene einfache Leben in der Steppe und ihre edlen Bewohner, die Wölfe, die seit unvordenklichen Zeiten schon die Mongolen spirituell beeinflusst haben. Laut Chen glauben die nomadisierenden Viehzüchter, dass das Raubtier notwendig ist, um das „Ökosystem der Steppe auszubalancieren“.

Den Viehzüchter Bilige lässt der Autor sagen: „Tengri schickte uns den Wolf, der dafür sorgt, dass die Grasflächen nicht überweidet werden.“ Aber keiner, der sich an den (chinesischen) Ausrottungsaktionen gegen den Wolf beteiligte, habe auch nur geahnt, wie richtig diese „Warnung“ war, schreibt die China Daily anerkennend über die Weisheit der Romanfigur, „denn als der Wolf verschwand, war die Verwüstung dieses Lebensraumes fast besiegelt“.

Immer wieder weist der Autor auf die parallelen Schicksale der Wolfsrudel und der mongolischen Viehzüchter hin – „der Nachkommen Dschingis Khans, dessen Herrschaftsbereich bis heute an Größe von niemandem übertroffen wurde“. Diese Botschaft hören die von den Chinesen heute in eine geradezu verschwindende Minderheit gedrängten Mongolen wohl. Tengger, der Sänger der Musikgruppe „Canglang Yuedu“ (Wolf-Band), bedankte sich öffentlich für die chinesische Wolfseloge: Das Buch habe tief verschüttete Erinnerungen wachgerufen.

Jiang Rongs Recherchen und Geschichten haben aber auch und vor allem junge Chinesen begeistert: So meint zum Beispiel der Computerspezialist Fu Jun: „Wie der Autor die Wölfe beschreibt und die mongolischen Nomaden, das hat mich sehr berührt. Es sind harte Burschen, die bis zum letzten Blutstropfen kämpfen. Einige ihrer positiven Eigenschaften sind es wert, von uns übernommen zu werden, zum Beispiel durch unsere Fußballmannschaften.“

Jiang Rong meint, dass es die kleinbäuerliche chinesische Landwirtschaft war, die aus den Chinesen das gemacht habe, was er ein Schafstemperament nennt: „Sie sind unterwürfig, demütig und passiv, dazu verdammt, geschlagen und eingeschüchtert zu werden. Demgegenüber haben die Mongolen der Steppe Selbstbewusstsein und großen Mut – so wie der Wolf!“ Dem Autor gerät seine Nomaden-Romantik dabei immer wieder zu einer faden Wolfspredigt. Wahr ist daran jedoch, dass die Spezifik und Dauer der chinesischen Reisbauernkultur eine fast schon eingefleischte Kollektivität hervorgebracht hat. Die prosperierende Handels- und Industriegesellschaft verlangt nun aber eher individuelles Denken und Handeln von jedem – so wie es die nomadischen Viehzüchter scheinbar vorgelebt haben.

Für den Literaturkritiker Zhang Qianyi aus Hongkong ist das zwar eine „allzu simple „Geschichtsauffassung“. In der chinesischen Geschäftswelt, „wo sich heutzutage die heftigste Jagdleidenschaft austobt“, wie die China Daily schreibt, stieß sie jedoch auf große Resonanz. Hier ist man der Meinung, dass der Wolf, so wie einst schon die mongolischen Viehzüchter von ihm lernten, nun auch Vorbild für den modernen Geschäftsmann sein sollte – mindestens im Hinblick auf seine Jagdtechniken: „Aus dem Buch von Jiang Rong erfahren wir, dass die Wölfe ausgezeichnete militärische Führer sind“, sagt zum Beispiel Zhang Ruimin, Geschäftsführer der Haier-Group, einer in Shandong ansässigen Elektrofirma, „sie gehen nie unvorbereitet in einen Kampf und sie wissen, wie man sich anschleicht, einen Hinterhalt legt, belagert und jemanden abfängt. Aber ihre am meisten zu lobende Eigenschaft ist, dass sie immer und in jedem Fall als Team kämpfen.“

Seit der Veröffentlichung von „Wolf Totem“ im April 2004 sind in China bereits vier Ratgeberbücher erschienen, in denen es darum geht, wie man mit Hilfe von Wolfsstrategien beim Geschäftemachen erfolgreich ist. Unterdessen hat der Autor Jiang Rong der Pekinger Youth Daily in seinem bisher einzigen Interview gestanden, dass er in Wirklichkeit Jiang Mao heißt, 58 Jahre alt und Wirtschaftsprofessor an der Pekinger Universität ist. Während der Kulturrevolution – ab 1967, lebte er 11 Jahre in der mongolischen Steppe. Und sein Romanheld, Chen Zhen, das sei er selbst.

Neues von Werwölfen aus Russland gibt es nächsten Montag auf dieser Seite