berliner szenen
: Mit dem Regen sprechen

Regenzeit in Berlin. Es nieselt und schifft. Immer abwechselnd. Wer die Stadt noch nicht verlassen hat, hat in der Regel bereits Pläne gemacht. Ich muss bleiben. Wie die meisten. Die Stadt braucht uns. Ohne uns Bleibende, würde die Stadt einen verlassenen Eindruck machen. Das wäre nicht klug. Sie wirkt eh wie ein sinkendes Schiff.

Jeden Nachmittag trotze ich dem Regen einen Spaziergang ab, um mein Bleiben zu bezeugen. Am Maybach­ufer liegen wie gewöhnlich viele Sachen herum, die niemand haben will. Manche davon sind noch gut zu gebrauchen. Ein Sack mit sauberer Kinderkleidung, ein durchnässter Ikea-Sessel, ein Badmintonschläger, ein Karton mit Taschenbüchern, eine bunte Einkaufstüte mit Katzenfutterdosen. Warum landen diese Sachen auf der Straße? Niemand wird das je erfahren. Ihre Geschichte wird nicht erzählt.

Gegenüber am Paul-Linke-Ufer ist das anders. Dort gibt es Geschichten zu entdecken, die niemand hören will. Trotzdem werden sie erzählt. Von Menschen, die naturgemäß allein unterwegs sind. Ich sehe nie mehr als einen oder zwei von ihnen auf meinen Rundgängen durch den Kiez. Ihr Äußeres lässt darauf schließen, dass sie bessere Tage gesehen haben. Es sind Bleibende, wie ich. Leise vor sich hin murmelnd oder laut deklamierend gehen sie am Ufer entlang. Oder sie sitzen auf den Bänken und sprechen mit dem Regen. Zuhörer brauchen sie keine. Der Regen genügt ihnen. Vielleicht ist es ein Fehler, nicht zuzuhören. Vielleicht würden wir bedeutsame Dinge lernen. Ich könnte zuhören, ich hätte Zeit. Der Regen wäre kein Hindernis. Ich ringe mich durch und setzte mich zu einem Mann mit langem grauen Bart auf die Bank. Der Mann unterbricht kurz seine Erzählung, möglicherweise um zu begutachten, ob ich als Zuhörer tauge, dann spricht er weiter.

Henning Brüns