berliner szenen
: Dumme Propaganda mit Petja

Ich bin in der Berliner Stadtbibliothek an der Breiten Straße und rege mich auf. Von Zeit zu Zeit lese ich die Moskauer Zeitschrift Argumenty i fakti, die hier ausliegt. Mit schöner Regelmäßigkeit bringt sie alles außer Tatsachen und schustert sich beim Argumentbau die Welt zurecht. Jetzt aber ist die Redaktion völlig übers Ziel hinausgeschossen.

Das neue Artikelrezept: Man nehme einen russischen Soldaten namens Tschaikowski, der in der Ukraine kämpft. Gebe seinen berühmten Namensvetter, der sich nicht dagegen wehren kann, dazu. Nun mische man beides, würze es mit einem Riesenlöffel russischem Patriotismus und heraus kommt ein Text, den nur verdaut, wer sonst nichts anderes kennt.

Ich schaue auf das in der Zeitung abgedruckte Foto von Piotr Tschaikowski und bin wütend. Tschaikowski ist mein Lieblingskomponist. Am liebsten würde ich die Zeitung zerreißen. Stattdessen fahre ich ins Schiller-Theater. Das ist produktiver. Dort ist die neue Heimat von Jewgeni Onegin, meiner Lieblingsoper und meiner absoluten Lieblingsinszenierung. Barrie Kosky sei Dank. Diese Puschkin-Tschaikowski-Kosky-Kombination wirkt bei mir als Wundermittel. Verspannungen lösen sich in Luft auf, Kopfweh verschwindet. Ich genieße und gebe mich meinem Mitgefühl für Tatjana (total) und Onegin (teilweise) hin.

Nach der Pause wird es richtig spannend, dann werden Riesenkulissenteile im Akkord von der Bühne geschleppt. Längst weiß ich, bei welchem Takt die Bühne leergeräumt sein muss. Jedes Mal fiebre ich mit und gebe zusammen mit anderen Szenenapplaus. Ich möchte gerne mit Tschaikowski reden und ihm sagen: „Petja, man baut dich zum Supernationalisten auf. Erheb dich aus deinem Grab und wehr dich.“ Ich warte noch auf eine Antwort. Katja Kollmann