Der Wiedervereiniger

Der Einheitspolitiker im Schatten von Helmut Kohl

Von Klaus Hillenbrand

Er hat sie alle überholt. Selbst August Bebel, der große Sozialdemokrat, kam nicht auf eine so lange Zeit als Parlamentarier, damals im Reichstag von Kaiser Wilhelms Gnaden. Bebel gehörte dem Parlament von 1867 bis 1881 und von 1883 bis 1913 an. Wolfgang Schäuble war 51 Jahre lang Mitglied des Deutschen Bundestags, seit 1972 und bis zu seinem Tod. 1972, das war übrigens das Jahr, als die SPD unter Willy Brandt bei den vorgezogenen Bundestagswahlen sagenhafte 45,8 Prozent erhielt. Also wirklich schon sehr lange her.

Wolfgang Schäuble war da gerade 30 Jahre alt geworden. Ein aufstrebender junger Mann aus gutem Hause, wie man damals so sagte. Der Vater, Prokurist und als evangelischer Konservativer der CDU angehörig, war zeitweise Landtagsabgeordneter. So kam es, dass der junge Jurastudent Wolfgang Schäuble schon 1961 der Jungen Union beitrat und später, als andere gegen den Muff der besudelten bundesdeutschen Elite auf die Straße gingen, den das Land regierenden Christdemokraten.

Aber nicht der CDU-Abgeordnete Schäuble ist es, der in der politischen Geschichte in Erinnerung bleiben wird, obwohl der gebürtige Freiburger sogar als Bundestagspräsident – und zuletzt ganz selbstverständlich als Alterspräsident – des deutschen Parlaments fungierte. Sondern der Mann, der die deutsche Wiedervereinigung managte und der mit dafür sorgte, dass Bonn als Hauptstadt des westdeutschen Teilstaats durch Berlin als neues, altes Zentrum des Landes abgelöst wurde.

Schäuble arbeitete damals unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) in einer schwarz-gelben Koalition als Bundesinnenminister. Deshalb fiel ihm nach dem Fall der Mauer die Aufgabe zu, zusammen mit dem zu Recht ziemlich vergessenen Günther Krause auf DDR-Seite den Einigungsvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten zu verhandeln. Der bestimmte, dass sich die DDR auflöste und zugleich der Bundesrepublik beitrat. Eine für diesen Fall eigentlich vorgesehene Volksabstimmung fand nicht statt.

Es hat damals nicht an Kritik an diesem Vertrag gefehlt, gerade von links. Manche Menschen in der DDR hofften auf einen dritten Weg, jenseits von Kapitalismus und Staatssozialismus. Viele Zeitgenossen im Westen wiederum konnten schon mit der Begrifflichkeit der Wiedervereinigung nicht allzu viel anfangen. „Droht die Wiedervereinigung?“, fragte damals der Grüne Joschka Fischer besorgt in der taz. Schäuble hat die Politik der raschen Vereinigung immer verteidigt. Dem Spiegel sagte er 2019: „Kohl hat instinktiv richtig gehandelt, ist in Europa achtsam aufgetreten und hat den Menschen hier viel Hoffnung gemacht. Heute könnte man vielleicht sagen, er hat ihnen zu viel Hoffnung gemacht.“

Die Frage, wo Regierung und Parlament künftig ihren Sitz haben sollten, wurde im Einigungsvertrag wohlweislich ausgeklammert, denn zu zerstritten waren Politik wie Volk. Deshalb musste der Bundestag am 20. Juni 1991 entscheiden. Es war Wolfgang Schäuble, der mit seiner Rede wohl den Ausschlag gegen das ursprünglich favorisierte Bonn gab. „Für mich ist es – bei allem Respekt – nicht ein Wettkampf zwischen zwei Städten, zwischen Bonn und Berlin. In Wahrheit geht es um die Zukunft Deutschlands“, sagte der vehemente Berlin-Befürworter. Am Ende stimmten 320 Abgeordnete für Bonn, aber 338 votierten für Berlin.

Im selben Jahr gab Wolfgang Schäuble den Posten des Bundesinnenministers auf und avancierte zum Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Es ist dies bis heute der machtvollste Posten, den die Union jenseits einer Regierungsbeteiligung zu bieten hat. Und Schäuble, der seine Karriere bis dahin zuallererst Helmut Kohl zu verdanken hatte, blieb der Mann, auf den sich der 1990 wiedergewählte Bundeskanzler verlassen konnte, in Details wie bei den ganz großen Themen.

Kohl wusste, was er dem getreuen Schäuble zu verdanken hatte. Erinnert sei hier nur an die Revolte von Heiner Geißler und Lothar Späth gegen den CDU-Chef im Sommer 1989, als niemand den Fall der Berliner Mauer vorausahnen konnte. Damals hatte Kohl den liberalen und wiederborstigen Geißler als CDU-Generalsekretär abgesägt. Der verschwor sich mit dem Baden-Württemberger Späth, auch eine gewisse Rita Süssmuth soll damals mit von der Partie gewesen sein. Doch Kohl – und sein Verbündeter Schäuble – beendeten den Spuk noch vor dem Bremer Parteitag.

So schien die Macht Ende der 1990er Jahre auf Wolfgang Schäuble quasi wie von selbst zuzulaufen, zumal Kohl zunehmend Verschleißerscheinungen bei seiner ewigen Kanzlerschaft zu zeigen begann. „Zu gegebener Zeit“, so Kohl 1998, werde Schäuble sein Nachfolger im Kanzleramt werden. Der damalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) assistierte, Schäuble sei für „jedes herausragende Amt in der deutschen Politik qualifiziert“. Dummerweise aber wollte Kohl es 1998 noch einmal selbst wissen – und verlor die Bundestagswahl gegen Gerhard Schröder (SPD). Das war’s mit der Kanzlerschaft für Schäuble.

Der nächste Schlag ereilte ihn im Zug der CDU-Parteispendenaffäre. Zwar durfte sich Schäuble nach Kohls Abgang als CDU-Vorsitzender sonnen, doch im Zug der nie aufgeklärten Affäre um die schwarzen Kassen der Union ging seine Autorität verloren. Eine 100.000-Mark-Spende eines bekannten Waffenhändlers, von Schäuble verwaltet, brachte ihn um Amt und Würden. Erst da, als es ihm nichts mehr nützte, brach Schäuble mit Kohl. Von einem „Machtkampf“ bis zur „Vernichtung“ seiner Person sprach Schäuble später. Seine Nachfolgerin wurde eine aufstrebende Politikerin aus dem Osten, der die alte Garde der ­West-CDU nicht viel Vertrauen entgegenbrachte: Angela Merkel.

Schäubles Karriere war damit nicht beendet. Er wurde erneut Innenminister und von 2009 bis 2017 Finanzminister. Aber die höchsten Staatsämter blieben ihm verschlossen. 2004 sorgte Merkel dafür, dass nicht Schäuble zum neuen Bundespräsidenten wurde, sondern der später eher unglücklich agierende Horst Köhler. Schäuble aber erklärte später, auf den Posten gar keinen großen Wert gelegt zu haben. Das kann man glauben oder auch nicht.

In einem seiner letzten Interviews sprach Schäuble im Oktober über seine Partei, die CDU: „Das C im Namen der CDU drückt aus, dass wir Politik für den Menschen machen, so wie er ist, und nicht wie er sein sollte“, sagte er. Am 26. Dezember ist Wolfgang Schäuble im Alter von 81 Jahren im Kreise seiner Familie verstorben.