Vergessener Tatort

Die bemerkenswerte Ausstellung „Der Tod ist ständig unter uns“ in der Topographie des Terrors erinnert an den Holocaust in Riga

Von Katja Kollmann

Im Juli 1939 schickt Katharina Abrahamson ihrer nach Palästina ausgewanderten Tochter Daisy ein Foto von sich und Daisys 13-jährigem Bruder Günther. Es ist die letzte gemeinsame Aufnahme der beiden, bevor er mit einem Kindertransport nach Großbritannien geschickt wird. Im Dezember 1941 erreicht die Geschwister noch ein Mal eine Nachricht der Mutter aus Berlin-Schöneberg. Katharina Abrahamsohn wird am 25. Januar 1942 nach Riga deportiert und dort ermordet.

Das Porträtfoto, auf dem Mutter und Sohn ihre Gesichter aneinanderschmiegen, befindet sich heute in der Sammlung des „Ghetto Fighters’ House“ in Israel. Zurzeit ist es in der Topographie des Terrors im Rahmen der Wanderausstellung „Der Tod ist ständig unter uns. Die Deportationen nach Riga und der Holocaust im deutsch besetzten Lettland“ zu sehen. Das Foto wurde vergrößert, auf Leinwand gedruckt und wird von hinten beleuchtet. Alle Fotos, auf denen Opfer zu sehen sind, werden so präsentiert. Während die Fotos, die deutsche und lettische Täter zeigen, separat in einer Mappe einsehbar sind. Eine klare Setzung der AusstellungskuratorInnen von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme: Opfer werden auf würdevolle Weise sichtbar gemacht, Tätern wird bewusst eine zu repräsentative Darstellung verweigert.

Fast 70.000 lettische und circa 25.000 Juden und Jüdinnen aus dem Deutschen Reich, dem annektierten Österreich sowie der Tschechoslowakei wurden in Lettland umgebracht. Riga war ab Herbst 1941, als die Deportationen in Deutschland begannen, eine Hauptdestination der Deutschen Reichsbahn, in deren Händen die Logistik der „Evakuierungen“ lag. Ende Oktober 1941 waren in der lettischen Hauptstadt mehr als 30.000 Rigaer Juden und Jüdinnen in einem Ghetto eingepfercht. Am 30. November und am 8. Dezember 1941 wurden 90 Prozent der Ghettoinsassen im Wald von Rumbula von SS, deutscher Schutzpolizei und lettischen Hilfspolizisten erschossen. Ab 1943 wurden die nach Riga deportierten Juden und Jüdinnen nicht mehr im Ghetto, sondern im KZ Riga-Kaiserwald oder in einem der zahlreichen Außenlager, die unter anderem von Reichsbahn, SS, AEG und Luftwaffe betrieben wurden, unter maximaler Ausbeutung ihrer Arbeitskraft inhaftiert, bis auch sie erschossen wurden.

Bemerkenswert ist an der Sonderausstellung vieles: die Klarheit der Sprache, verbunden mit einer stringenten Fokussierung auf die Essenz ihres schweren Themas. Die Auswahl der Fotografien ist beeindruckend. Oft wurden sie in Lokalarchiven ausfindig gemacht und nicht selten sind es Momentaufnahmen von Deportationen, etwa in Bielefeld und im fränkischen Forchheim. Einzelschicksale werden in der Schau wiederholt und durch Fotos, Briefe oder – wie bei Gerda Gerstl aus Wien, die im Ghetto einen Ring anfertigte – durch authentische Gegenstände erfahrbar gemacht. Nicht zu vergessen ist die Zweisprachigkeit: Lettisch und Deutsch. Die Wanderausstellung wurde speziell für Deutsche und LettInnen konzipiert, denn fast 80 Jahre nach Kriegsende haben in beiden Ländern viele keine Kenntnis von Riga als einem der Haupttatorte des Holocaust in der deutsch besetzten Sowjetunion.

Folgerichtig schlägt die Ausstellung einen Bogen bis in die Gegenwart und zeichnet die zögerliche Herausbildung einer Gedenkkultur in beiden Ländern nach. Karl F. Winter erinnert sich 2003, wie er in den 50er Jahren in der Schule als „Judensau“ beschimpft wurde. Seine Mutter war aus Riga ins niederrheinische Hemmerden zurückgekehrt und kämpfte beharrlich um einen Gedenkstein für ihre Eltern und andere Holocaust-Opfer: Er wurde dann 1964 auf dem örtlichen Friedhof aufgestellt.

Im noch sowjetischen Riga gründete der Historiker und Holocaust-Überlebende Marģers Vestermanis 1988 das Museum „Juden in Lettland“. Schon in den frühen 60er Jahren wollte er über den Holocaust in Lettland publizieren, die Nennung jüdischer Opfer aber war bis weit in die 80er Jahre im sowjetischen Geschichtsnarrativ nicht vorgesehen. Günther Abrahamsohn aus Berlin-Schöneberg kehrte nie wieder nach Deutschland zurück.

„Der Tod ist ständig unter uns“: Topographie des Terrors, bis 10. März