Vortrag über ukrainische Kultur: Nationaldichter mit großem MG

Im Angriffskrieg steht es prekär um die ukrainische Kultur. Der Künstler Yuriy Gurzhy spricht am Mittwoch bei einer Vortragsreihe an der HU Berlin.

Eine Statue des ukrainischen Nationaldichters Tavas Schewtschenko in Charkiw, von Sandsäcken geschützt.

Auch prekär: Die Statue von Nationaldichter Schewtschenko in Charkiw Foto: Roman Pilipey/EPA

„Mein Opa ist in den späten 1970ern jeden Sonntag ziemlich betrunken nach Hause gekommen und hatte ‚neue‘ Musikkassetten dabei“, erzählt Yuriy Gurzhy. „Er war einer der Charkiwer Musikenthusiasten, die Untergrundkassetten mit Westmusik tauschten. Ich habe seine Kassetten heute noch. Total wilde Mischung. Mein Opa wäre heute ein ziemlich genialer DJ.“

Der Enkel ist ein erfolgreicher DJ und Musiker. Am Mittwochabend spricht Gurzhy in der Vortragsreihe „Rethinking and Reimagining Ukraine in Times of War – and After“ im Hörsaal der Berliner Humboldt-Universität. Dafür hat er einen Laptop mitgebracht und wirft verschiedene Taras-Schewtschenko-Motive an die Wand, die so erst der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hervorgebracht hat: etwa der Nationaldichter mit Riesen-MG.

Nächste Veranstaltung der Vorlesungsreihe „Rethinking and Reimagining Ukraine in Times of War – and After“ an der HU Berlin: 13. 12. Filmvorführung „The Lemberg Machine“, 18 Uhr

Gurzhy ist Gast jener Vorlesungsreihe, die vom Lehrstuhl für Slawistik ausgerichtet wird und sich ausschließlich mit der Ukraine beschäftigt. Er soll thematisch den Bereich Musik abdecken und erzählt von seiner ganz persönlichen Annäherung an Schewtschenko: „Vor zwanzig, dreißig Jahren kamen für mich seine Verse aus der tiefen Vergangenheit. Inzwischen sind sie brennend aktuell, da sie oft die Unterjochung der Ukraine thematisieren.“ Und darum lässt Gurzhy diese Dichtkunst, entstanden vor fast 200 Jahren, sprechen, indem er sie vertont.

Musik aus Gedichten

Zusammen mit seinem Freund und Mitstreiter Serhij Zhadan hat Gurzhy schon einige Alben auf den Weg gebracht, die aus Gedichten Lieder machen. Und so wird aus der Erzählung über ukrainische Musik auch eine Erzählung über ermordete und dann ins Vergessen gestoßene Dich­ter:in­nen, die alle in demselben Haus in Charkiw lebten. Das „Haus des Wortes“ erschien den ukrainischen Schrift­stel­ler:in­nen, die hier eine großzügige Wohnung zugeteilt bekamen, Ende der 1920er Jahre wie eine in Realität übersetzte Utopie.

In dem Gebäude wurde auf Stalins Befehl hin die neueste Technik beziehungsweise Überwachungstechnik installiert. So hatten alle 66 Wohnungen ein Telefon und das wurde abgehört. 1938 sind die meisten Be­woh­ne­r:in­nen tot. Hingerichtet. Verurteilt wegen ukrainischen Nationalismus, nur weil sie ihre Werke auf Ukrainisch verfassten.

Gurzhy erinnert sich, wie er als Jugendlicher Ende der 1980er, Anfang der 1990er nach einer Alternative suchte zu der im sowjetischen Schulkontext vermittelten Literatur. Er fand sie nicht. Denn seit den späten 1930ern waren alle Spuren, die zu den ermordeten Charkiwer Li­te­ra­t:in­nen führen könnten, getilgt worden. Eine Klassenkameradin von Gurzhy hat als Kind genau in diesem Haus gewohnt. Erst weit nach den Nullerjahren hat sie erfahren, dass sich in dem Zimmer, in dem sie als Kind schlief, 1933 der damals sehr bekannte Schriftsteller Mikola Chvylovij das Leben genommen hatte.

Punk meets Poesie

Der 48-jährige Musiker lässt einen punkigen Track mit Poesie der „hingerichteten ukrainischen Renaissance“ laufen und erinnert sich plötzlich an das erste Musikfestival, bei dem ausschließlich auf Ukrainisch gesungen werden sollte. Die Bands, die 1989 im west­ukrai­ni­schen Czernowitz beim Festival Czerwona Ruta (Rote Rute) auftraten, hatten in der Regel ihre Songs aus dem Russischen ins Ukrainische übersetzt.

Ihre Auftritte gelten inzwischen als legendär. Für Gurzhy war die Erfahrung von ukrainischem Gesang extrem prägend: Denn er erkannte hier eine neue musikalische Ebene, die ihn in seiner eigenen Entwicklung als Musiker stark beeinflusst hat. Viel später beschäftigt er sich auch mit jüdischen Musiktraditionen. Da lebt er schon längst in Berlin.

Nach dem 24. Februar 2022 schien für Gurzhy „einfach weiter Musikmachen“ unmöglich. Inzwischen ist das Album „Ukrainian Songs of Love and Hate“ veröffentlicht. In Zusammenarbeit mit den Poe­t:in­nen Grigory Semenchuk und Lyuba Yakimchuk sowie der Musikerin und Schriftstellerin Irena Karpa ist dabei ein Werk mit zehn Liedern entstanden, dessen Strea­ming­erlöse „dorthin fließen, wo sie gerade gebraucht werden, damit die Ukraine den Krieg gewinnt“. Viele Menschen an der Front und im Bunker hören diese Lieder. Vielleicht kann die während des Krieges entstandene Musik zu einer Art musikalischem Tagebuch werden, überlegt Gurzhy.

Die Konzerte, die er seit Kriegsbeginn gibt, empfindet er als Therapie. Für die, die Musik machen, genauso wie für die, die zuhören. Nicht selten fließen kollektiv Tränen, sagt der Musiker. Irgendwie tut das gut.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.