BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Ich verständige die Völker

Mit tief greifender Kommunikation und Eiern mit Senfsoße – als Sächsin ist das schließlich meine Aufgabe

Ich bin mit dem Wort „Völkerverständigung“ groß geworden. Aber weil sie im Osten kaum über blumige Lippenbekenntnisse hinausging, kannte ich die Bedeutung des Wortes nicht wirklich. Im Westen macht man es sich jedoch für meinen Geschmack zu leicht. Da wird die Völkerverständigung zu einer spielerischen Angelegenheit. Sie wird praktiziert beim Fußball, bei der türkisch-deutschen Ausgabe von „Wetten, dass …?“ oder mit der peinlichen Ausstellung „United Buddy Bears“, bei der 123 angemalte Berliner Bären als Friedensbotschafter um die Welt geschickt werden.

Das wundert mich doch sehr. Deshalb hab ich im Lexikon nachgeschaut. „Unter Völkerverständigung versteht man eine tief greifende Kommunikation zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, Kulturkreisen oder anderen vergleichbaren großen Gruppen auf allen Ebenen“, lautet die Definition. „Dabei gilt als Ziel, dass durch die Verständigung, Begegnung und interkulturelles Lernen Vorurteile und Grenzen zwischen den verschiedenen Gruppen abgebaut und ein kultureller und auch wissenschaftlicher Austausch ermöglicht wird. Dieses Ziel wird von Privatpersonen, Vereinen oder auch staatlichen Institutionen verfolgt.“ Gemeint sind also Goethe-Institut, Deutsche Welle – oder ich.

Neulich hatte ich eine Woche lang einen 21-jährigen guatemaltekischen Gitarristen bei mir zu Gast, der in London an einem königlichen Musikkonservatorium studiert und in Berlin ein Konzert gab. Zeitgleich suchte mich ein in Berlin lebender Franzose mit großer Regelmäßigkeit auf, sodass es in meinen vier Wänden zu einer Begegnung der dritten Art kam.

Wie viele seiner Landsleute ist der Franzose zwar sehr charmant, doch der englischen Sprache nicht wirklich mächtig. Die beiden saßen am Tisch und hielten sich mit ihren Blicken an mir fest, weil sie sich nicht miteinander verständigen konnten. Da war guter Rat teuer. Okay, die Jungs hätten Völkerball oder völkerverbindenden Fußball spielen können. Aber weil ich nicht an den Erfolg einer solchen Aktion glaube, erst recht nicht in meiner Wohnung, setzte ich auf Kommunikation. Quatschen kann ich ja.

Ich begann mit dem Thema Käse. Kein leichtes Unterfangen, weil Guatemala nicht unbedingt ein Land ist, in dem dieser Stolz der Franzosen zu den Grundnahrungsmitteln gehört. Es wurde zwar keine wirklich tief greifende Kommunikation, aber ein Anfang war gemacht. Der Guatemalteke: „Guda.“ Der Franzose: „Hä?“ Der Guatemalteke: „Guda.“ Ich: „Gouda.“ Der Franzose: „Ah, Gouda.“ Der Guatemalteke: „Sí, Guda.“ Der Franzose: „Oui, Gouda.“ Ich: „Salut! Santé!“

Als wir angestoßen hatten, waren auch schon die Kartoffeln gar. Ich hatte für die Menage à trois ein deutsches Essen zubereitet, das ich passend fand. Hart gekochte Eier mit Kartoffeln und Senfsoße. Weil man mit vollem Mund nicht reden soll, schwieg ich zur Abwechslung und somit auch der Guatemalteke und der Franzose. Aber auch Schweigen kann verbinden.

Zum Nachtisch packte der Guatemalteke seine Gitarre aus. Er spannte die Saiten und spielte romantische Stücke eines deutschen Komponisten, der Hölderlin-Gedichte vertont hat, und ein Werk eines Komponisten aus Paraguay, bei dem ich glaubte, Urwaldvögel zwitschern zu hören. An dieser Stelle konnte ich dem Franzosen endlich den Unterschied zwischen Vögeln und vögeln erklären. Als hätte der Guatemalteke meine wortreichen Erklärungen verstanden, spielte er zum Schluss die Vertonung des Schauerstückes „Der Untergang des Hauses Usher“ von Edgar Allan Poe, als wolle er die zarten deutsch-französischen Bande durch Gänsehaut verstärken.

Am Tag seiner Abreise hat der Guatemalteke seinen „Guda“ bei mir im Kühlschrank vergessen. Der Franzose und ich haben ihn gemeinsam verspeist. Endlich weiß ich, was Völkerverständigung ist und wie sie funktioniert. Ich finde das eine ganz schöne Leistung. Denn schließlich gehöre ich als Sächsin zu einem Völkchen, das tagtäglich um die Verständigung im eigenen Land ringt.

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