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Ein Dorf bewahrt den Unterschied

„Die Griechen, die von hier stammen, kommen her, schauen sich ihre alten Häuser an, bleiben eine Nacht und fahren wieder“

AUS RIZOKARPASO ANTJE BAUER

Andromachi Zacharias, geblümtes Kleid und ausgetretene Pantoffeln, sitzt vor der Küchentür im Garten. Neben dem Stuhl das Schälchen mit der Katzenmilch, der Gehstock griffbereit hinter ihr an die Wand gelehnt, aus der Küche dringt dünn griechische Musik. Wenn jemand am Gartentor Halt macht, fängt sie an zu reden. „Ich bin 85 Jahre alt“, sagt sie. „Ich bin hier geboren und habe mein ganzes Leben lang hier gelebt. Aber heute reut es mich, dass ich nicht in den Süden gegangen bin.“ Schwerfällig zieht sie sich aus ihrem Klappstuhl hoch, stockert in die Wohnküche, holt aus einem der armseligen Schränkchen eine Plastiktüte mit Keksen und legt sie auf den Tisch. Die Tür zum angrenzenden Zimmer steht offen, ein altes Holzbett ist zu sehen, ein Stuhl, viel mehr ist da nicht.

Die alte Frau erzählt und erzählt. Dass sie im Dorf geblieben ist, auch nachdem 1974 die türkische Armee auf Zypern einmarschiert und ein Großteil der Griechen von Rizokarpaso in den Süden geflohen war. Dass ihr verstorbener Mann, ein Arzt, ihr beigebracht hat, wie man Spritzen setzt, Blutdruck misst und Zähne zieht. Dass sie alle im Dorf behandelt hat, auch die Türken, dass diese aber trotzdem zweimal im Nebenhaus eingebrochen sind und bei ihr einmal. „Ich hatte tausend Hektar Land, aber sie haben es mir weggenommen“, sagt Andromachi Zacharias und weint. „Ich lebe wie eine Bettlerin.“

Seit vor zwei Jahren die Grenze zu Südzypern aufgegangen ist, kommt häufiger Besuch. Aber sonst? Sonst hat sich nichts geändert seither. Wie die letzten 30 Jahre auch leben nur einige wenige Griechen hier am Ort, alte Leute, die nach und nach sterben. Und sonst überall Türken.

Einer wohnt gleich gegenüber von Andromachi Zacharias’ Haus, auf der anderen Straßenseite. Der Bauer Sefa Yilmaz. Er sitzt am Feldrain und zupft lustlos Unkraut. „Andromachi“, sagt er, „wenn man zu ihr nur ‚Guten Tag‘ sagt, hört sie nicht mehr auf zu reden.“ Ständig beklage sie sich. Dabei gehe es ihr besser als ihm. 1976, zwei Jahre nach dem Einmarsch der türkischen Armee auf Zypern, ist er aus dem südtürkischen Adana hierher gekommen. Um die Zyperntürken zu schützen. Sagt er. In Rizokarpaso gab es zu der Zeit keine Zyperntürken, die er hätte schützen können, es war ein rein griechisches Dorf. Aber hier hat er einen Stall bezogen, Fenster eingebaut und Teppichboden hineingelegt, hat die Äcker geflohener Griechen bestellt und gerackert wie ein Tier. Trotzdem ist er arm geblieben. Auf einem alten Sofa sitzt er nun in dem engen Wohnzimmer, seine Frau in Pluderhosen und Kopftuch wickelt die Enkelin. „Die Griechen kriegen Geld – jeder pro Monat 100 Pfund. Und mittwochs kriegen sie Lebensmittel. Die reichen für einen Monat, aber sie bekommen sie jede Woche. Und was sie nicht verbrauchen, verkaufen sie“, sagt er verbittert. „Aber wir kriegen nichts, weder von hier noch von der anderen Seite.“

Als vor zwei Jahren die Grenze nach Südzypern aufging, hat er sich Hoffnungen gemacht. Hat an eine Hauswand „Pansyon Sefa“ gepinselt und auf Gäste gewartet. Vergeblich. Busladungen voller Zyperngriechen fuhren nun zum nahe gelegenen Apostel-Andreas-Kloster, aber sie übernachteten nicht in Rizokarpaso. Einmal kam der Enkel des Eigentümers seines Hauses. „Er hat sich die Bäume angeguckt, die wir gepflanzt haben, hat sich bedankt und ist gegangen.“

Als die Debatte um den Annan-Plan zur Wiedervereinigung Zyperns einsetzte, verstand Sefa Yilmaz, dass er möglicherweise sein Häuschen würde verlassen müssen, dass die Karpasia-Halbinsel vielleicht komplett den Griechen zurückgegeben werden würde. Dennoch wandte er sich zum ersten Mal von seinem Politidol, dem Staatspräsidenten Rauf Denktasch, ab und stimmte im letzten Jahr beim Referendum für eine Wiedervereinigung Zyperns. Weil er hoffte, dass dann auch der türkische Teil Zyperns Mitglied der EU werde und es mit der Wirtschaft aufwärts gehe. Dass seine Kinder Arbeit bekämen. „Unser Sohn ist arbeitslos“, wirft die Frau ein. „Das hat seine Ehe kaputt gemacht.“ Doch nun ist Yilmaz enttäuscht und wütend. „Sie haben uns das Blaue vom Himmel versprochen, damit wir mit Ja stimmen, aber geändert hat sich gar nichts. Die EU hat eine Doppelmoral. Wenn es noch mal ein Referendum gibt, stimme ich mit Nein.“

Rizokarpaso, das ist ein sich weit über einen Hügel dahinstreckendes Dorf. Mehrere alte, große, weiß gekalkte, verschlossene Kirchen. Eine neue, große, weiße, geöffnete Moschee. Niedrige Häuschen inmitten von blühenden Gärten. Ein griechisches Kaffeehaus, ein türkisches Kaffeehaus. Eine jüngst wiedereröffnete griechische Realschule. Eine Atatürk-Büste am Platz. Jenseits der Häuser Oliven- und Obstbäume, ein bisschen Weizen. Esel, die im Schatten der Bäume weiden.

Kasim Zengin, Türke aus dem ostanatolischen Agri, sitzt an seinem Stammplatz im griechischen Kaffeehaus. „Ich habe es eine Weile mit der Landwirtschaft versucht“, sagt er. „Aber die wilden Esel haben mir die ganze Ernte aufgefressen. Die griechischen Hirten haben sie freigelassen, als sie weggegangen sind von hier, und wir Türken trauen uns nicht, sie zu töten. Nachher kriegen wir deswegen Ärger. Jetzt versuche ich es mit Textilhandel.“ Von seinem Platz in der Ecke des Kafeneion aus kann Zengin seinen Laden auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Auge behalten für den Fall, dass Kunden kommen sollten. An seinem Tisch sitzen drei Griechen. Sie verschwinden, als die Journalistin zusammen mit ihrem türkischem Begleiter ein Interview machen will. Vor einem Türken wollen sie sich nicht äußern. In einer anderen Ecke des Kaffeehauses sitzt ein Pärchen, türkische Zyprioten. Und am Nachbartisch ein türkischer Polizist. Alle anderen Gäste, ältere Männer zumeist, sind griechische Zyprioten. Sie spielen Karten und trinken griechischen Mokka, der aus der Republik Zypern eingeführt wird. Wenn sie gehen, bezahlen sie in zypriotischen Pfund. Wenn Kasim Zengin geht, bezahlt er in türkischen Lira.

Der Polizist schreibt einen Rapport und wird dabei von den anderen Kaffeehausbesuchern aus den Augenwinkeln misstrauisch beobachtet. „Hier nebenan ist das türkische Café. Der Besitzer hat sich aufgeregt, weil diese türkischen Zyprioten hierher gekommen sind statt zu ihm, und er hat den Polizisten gerufen, weil sie angeblich falsch geparkt haben“, erregt sich die energische Kyriagou Barnaba, die das Kafeneion betreibt. Aber erst, nachdem der Polizist sich wieder getrollt hat. Für Kyriagou Barnaba hat sich nichts geändert, seit die Grenze aufgegangen ist, die Erbitterung hat eher noch zugenommen. Dass die griechischen Zyprioten das Referendum abgelehnt haben, hält sie für richtig – „sonst hätten die Türken alles genommen!“, sagt sie. Ein bisschen widerstrebend räumt sie allerdings ein, dass sie seit der Grenzöffnung einen neuen Angestellten hat, einen jungen Zyperngriechen aus dem Süden. Ein junger Neuzugang in einem Dorf, in dem nur noch alte Griechen zurückgeblieben waren! „Viele würden gerne hierher kommen“, sagt sie, „aber sie wagen es nicht, weil sie nicht wissen, ob sie bleiben dürfen.“

Vor den „Karpaz Arch Houses“ steigt weißer Qualm auf. Ein paar Freizeitjäger aus Nikosia sind hier abgestiegen, wie fast jedes Wochenende, und haben einen Grill angeworfen. Die Häuser aus hellen Steinquadern gehören Griechen. Eines war früher ein Laden, ein anderes ein Wohnhaus, in einem dritten wurde eine Taverne betrieben. Vor ein paar Jahren hat die Gemeinde zusammen mit dem Tourismusministerium die Häuser restauriert und daraus Hotelzimmer gemacht. Wenn die Insel wiedervereint wäre, würde sich das „Karpaz Arch Houses“ vor Gästen vermutlich nicht retten können: schöne alte, kühle Häuser mit dicken Mauern, das Meer ganz in der Nähe und ein Naturschutzgebiet außen herum. Aber so, wie es ist, lohnt sich noch nicht einmal ein Restaurationsbetrieb. „Die Griechen, die von hier stammen, kommen her, schauen sich ihre alten Häuser an, bleiben eine Nacht und fahren wieder“, sagt Osman Kaba, der junge Manager. „Sie kaufen auch nichts ein, weil sie sonst an der Grenze mit der zyperngriechischen Polizei Probleme bekommen.“

Osman Kaba stammt von der türkischen Schwarzmeerküste und hat eine Zyperntürkin geheiratet. Sein Sohn ist auf der Insel geboren und darf deshalb die Grenze zur Republik Zypern überqueren. Seit die Grenze geöffnet wurde, studiert er auf der anderen Seite in einem College. Weil Kaba mit einer Zypriotin verheiratet ist, darf auch er auf die andere Seite. Er fühlt sich wohl dort. „Ich habe zehn Jahre in England gelebt, und drüben ist der Lebensstandard genauso wie in London.“ Falls es ein weiteres Referendum geben sollte, werde er wieder mit Ja stimmen. „Man hat uns beim letzten Mal hereingelegt. Aber wir wollen eine Einigung. Es kann nur besser werden für uns. Bislang werden wir nicht anerkannt. Das heißt, wir können mit unseren nordzypriotischen Pass nirgendwohin. Wenn man sich etwas besorgen will, muss man das immer auf Umwegen tun.“

Die Kurdin Dilsah Kirboga hat hinter ihrem Haus einen kleinen Garten angelegt und für ihren im vergangenen Jahr verstorbenen Vater ein paar Bäume gepflanzt. Sie hegt und pflegt den Garten, aber sie weiß nicht, ob sie die Bäume noch sehen wird, wenn sie groß sind, oder ob dann längst wieder alles in der Hand der griechischen Eigentümer ist.

„Wir wissen nicht, was wir tun sollen“, sagt sie. „Wir können unser Haus nicht herrichten, weil wir Angst haben, dass die Griechen kommen und es wiederhaben wollen. Wenn klar wird, wie es weitergeht, dann kann man planen. Aber jetzt tun wir nichts. Wir sitzen herum und warten ab.“

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