Ein Frontbericht
: Geliebter Müll

Tiemo Rink

Das Problem ist schon etwas älter: Ostfriesland im Jahr 1989, irgendwo hinterm Deich. „Jetzt muss ich mich aber echt wundern, wie ihr mit unserer Natur umgeht“, ruft der Komiker Otto Waalkes im Kinofilm „Der Außerfriesische“ und fällt einer Ökobauerin in den Arm, die einen benutzten Teebeutel im Biomüll entsorgt. Aber nicht mit Otto. Von wegen Biomüll: „Das ist doch einwandfrei ein Mehrkomponentenabfall: Altpapier, Altmetall und Altschnur.“ Otto drängt auf korrekte Mülltrennung – und hat die passenden „Entsorgungseinheiten“ zu günstigen Preisen gleich mit dabei. So weit die Lage in Ostfriesland vor 23 Jahren.

Und heute? Es sieht so aus, als hätte Otto gewonnen. Aber nicht im Norden, sondern in Baden-Württemberg. Denn das Verhältnis der Schwaben zu ihrem Müll – es ist wahnhaft. In Tübingen zum Beispiel blättert der Bürger im „Abfall-Kalender“, einem 68 Seiten dicken DIN-A5-Heft – selbstverständlich aus Recyclingpapier – und weiß alles besser.

Mülltrennung ist ein ernstes Geschäft. Hier kommt's auf Genauigkeit an. Im „Abfall-ABC“, einem Glossar für allerlei Unrat, setzt Tübingens Abfallkalender Maßstäbe. Wer sich fragt, wohin mit dem Müll, kann es hier nachlesen. Altes Papier gehört ins Altpapier, Aktenordner in den Restmüll. Aktenordner mit Papier hingegen kommen in den „Verwerter“ – was auch immer das sein mag.

Noch unübersichtlicher gestaltet sich die Lage bei den Hinterlassenschaften von Haustieren: Kaninchenkot in die Biotonne, Katzenkacke aber in den Restmüll. Warum bloß? Und was geschieht, wenn die Haustiere das Zeitliche gesegnet haben? Dann steht laut „Abfall-ABC“ knapp zwanzig Kilometer von Tübingen entfernt der Schlachthof in Rottenburg bereit. Es ist die kalte Fratze des Bürokratismus, die hier ihr Haupt erhebt und dazu führt, dass tränenüberströmte Kinder die sterblichen Überreste von Meerschweinchen Rudi und Kater Mohrli vor den Toren der Stadt verklappen müssen.

Verständlicherweise wollen liebende Tübinger Eltern ihren Kindern solcherlei Traumata ersparen. In diesem Fall müssen sie warten, bis die Haustiere vollständig verwest und skelettiert sind. Möglich macht's ein Schlupfloch im „Abfall-ABC“: Knochen gehören in den Restmüll.

Wer beim Unratsortieren den Überblick verliert, muss entweder wegziehen oder zur Nachschulung. Für den akademischen Nachwuchs bietet die Tübinger Universität zum nächsten Semester unter dem Titel „Deutschland besser verstehen – Aspekte deutscher Alltagskultur“ tiefe Einblicke zum Thema „Die Mülltrennung ist eine Besessenheit“. Aber auch ans jüngere Publikum ist gedacht: Grund- und Vorschüler verbringen kunterbunte Nachmittage auf dem „Abfallerlebnispfad“ einer Restedeponie bei Dußlingen. „Hier macht Lernen Spaß“, behaupten die Betreiber.

Wozu das Ganze? Es geht um die lustvolle Begeisterung am Umgang mit dem eigenen Dreck. Stolz zerren die Tübinger ihre kunstvoll geschmückten Tonnen auf die Straßen. Die Tonnen sind verziert mit den bunten Bezahlmarken der letzten Jahre und künden von der rasenden Sammelleidenschaft ihrer Besitzer. Ein ausgefuchstes Stadtmarketing hätte sich die Begeisterungsfähigkeit seiner Bürger längst zunutze gemacht. Ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Müllsommer 2011: ich war dabei“ – es wäre der Renner.

In Berlin, Köln oder Hamburg kommt die Müllabfuhr, schmeißt den Müll in ein großes Auto und fährt davon. Unter Schwaben wäre ein solches Verhalten so falsch wie ein Wattestäbchen im Biomüll. Penibel stellt man stattdessen in Tübingen per E-Mail den „Müllwecker“ und lauert in der Nacht vor der Abholung argwöhnisch neben seinem Unrat. Voller Sorge, ein Fremder könne den schutzlos vor der Haustür stehenden Müll mit fremdem Müll, nun ja, vermüllen. Eine Sorge, die dazu führt, dass immer mehr Mülleimer in der Innenstadt mit Schlössern gesichert sind.

Der gute, edle Müll – er will umhegt sein. Romantische Gefühle umwehen den Tübinger, wenn seine Hand zärtlich das in die Jahre gekommene Tonnenblech liebkost. Doch bald schon heißt es Abschied nehmen. Insgesamt 90.000 Tübinger Mülltonnen müssen im Laufe dieses Jahres sterben. Der Grund: Sie sind zu alt, um mit einem Elektrochip aufgerüstet zu werden. Dieser ist aber ab 2013 Standard. „Meine Zeit läuft ab“, steht daher auf den Aufklebern, die ab September auf die lieben, alten Tonnen gepappt werden.

Zum Jahresende ist es dann so weit: Mit feuchten Augen, kalten Händen und belegter Stimme muss sich der Tübinger vom vertrauten Mülleimer verabschieden. Das sind die Schattenseiten der schwäbischen Abfallpolitik. Der Teufel Elektrochip, erbarmungsloser Buchhalter einer bis ins Letzte verwalteten Welt. Verzweifelt greift der Tübinger zum „Abfall-Kalender“, doch das Glossar gibt sich auch auf Seite 57 unbeirrt: Mülleimer ohne Müll kommen auf den Sperrmüll.