Gefühle im Anthropozän

Die französische Philosophin Corine Pelluchon möchte mit „Die Durchquerung des Unmöglichen“ bei Lebenskrisen helfen

Von Michael Wolf

Man kann Corine Pelluchon keine falsche Bescheidenheit vorwerfen. Die französische Philosophin versucht sich seit einigen Jahren an einer Novellierung des menschlichen Selbstverständnisses im Anthropozän. Hierfür fordert sie nicht weniger als eine „neue Aufklärung“, eine solche, die nunmehr untrennbar verbunden sei „mit dem Bewusstsein für die menschliche Destruktivität und Tragik sowie mit der Anerkennung und Wertschätzung der Verletzlichkeit von Mensch und Gesellschaften“.

An dieser Beschreibung lässt sich gut ablesen, was der alten Aufklärung ihrer Ansicht nach fehlte. Aber warum nimmt sie dann überhaupt noch auf sie Bezug, zumal wenn das Entscheidende an ihr sie nicht interessiert? Das aufklärerische Denken war zunächst einmal nur der Ratio verpflichtet, die sodann Schlüsse über Mensch, Gesellschaft, Glück und Unglück zuließ. Pelluchon dreht diesen Prozess um, sie setzt die Ergebnisse des Philosophierens an dessen Beginn.

Tatsächlich steht das Denken bei ihr nicht einmal zentral, sondern das Fühlen, und sogar ein sehr spezifisches Gefühl. Ihr Essay „Die Durchquerung des Unmöglichen“ öffnet mit der Verzweiflung. Deren Gründe erstrecken sich vom Erstarken rechter Populisten und der zerstörerischen Dynamik des Kapitalismus über das Wissen um die Unumkehrbarkeit des Klimawandels bis zu den Gräueln der Massentierhaltung. Große Sensibilität spricht aus ihren Zeilen, die keinen Unterschied zwischen dem Persönlichen und dem Politischen gelten lassen. Pelluchon schreibt sehr offen, dass sie kurz vor dem Selbstmord gestanden habe, dann aber eine unerwartete Rettung erfuhr. Die Hoffnung überkam sie.

Corine Pelluchon: „Die Durchquerung des Unmöglichen. Hoffnung in Zeiten der Klimakatastrophe“. A. d. Französischen von Grit Fröhlich. C. H. Beck, München 2023, 159 Seiten, 22 Euro

„Espérance“, so der Begriff im französischen Original, gleiche einem unerwarteten Lichtschein in tiefster Nacht. Das Durchschreiten des Jammertals ist notwendige Bedingung dieser Erleuchtung, die sodann das Unmögliche möglich mache, womit auch das ganz konkrete politische Engagement gemeint ist. Wie eine Prophetin stellt Pelluchon die Hoffnung all jenen in Aussicht, die wie sie selbst von den Verhältnissen niedergedrückt werden. Allerdings wirke sie nicht nur individuell, sondern vermöge es auch, ein ganzes „Volk“ im Einsatz für eine gemeinsame Sache zu einen.

Man darf leise Zweifel hieran anmelden, tendiert der Band doch sehr zum Spirituellen und leistet als politischer Debattenbeitrag nur geringe Überzeugungskraft. Das steht wenigstens zu hoffen, läuft es einem bei der Vorstellung eines vereinten Volks, das einem allgemein geteilten Ziel entgegenstrebt, doch kalt den Rücken herunter. Lieber noch läse man diesen Essay als eine Art Handreichung für Lebenskrisen im Angesicht der Apokalypse.

Das klingt reichlich religiös und ist es auch. Die Autorin ­bedient sich eifrig bei der Bibel, auch wenn sie von Gott nichts wissen will. Der Rückgriff auf jenseitige Erkenntnisse dient ihr zur Vermeidung des ­philosophischen Kanons. Wenn die reine Vernunft, wie immer wieder anklingt, alles nur noch schlimmer gemacht hat, gilt es, an voraufklärerische ­Gewissheiten anzuknüpfen. Auch das Besinnen auf die eigenen Emo­tio­nen lässt sich als eine solche Ausweichbewegung verstehen. Pelluchon benennt Einblicke in Schlachthöfe oder Betriebe für Massentierhaltung als Anlässe größtmöglicher Verzweiflung. Wisse man einmal um die dortigen Verhältnisse, könne man nicht anders, als sich dem Tierwohl zu verschreiben.

Diese Denkfigur ist gerade sehr beliebt, sie findet sich ähnlich auch bei Martha Nussbaum, die in „Gerechtigkeit für Tiere“ das Staunen über die spezifische Lebensweise der Tiere und daraus abgeleitet den Übergangszorn setzt, der sich daran entzünde, dass sie von Menschen an der Entfaltung ihrer natürlichen Potenziale gehindert werden. Es ist ein „Übergangszorn“, weil von hier aus der Einsatz zur Überwindung des Unrechts unumgänglich scheint.

Corine Pelluchon blendet aus, was ihrer Meinung nach nicht sein darf

Doch verbleibt dies auf der Ebene der Behauptung, da die Realität anders aussieht. Was in Mastbetrieben geschieht, dürfte auch vielen Fleischkonsumenten bewusst sein. Verdrängung ist mithin durchaus eine Option. Nussbaum wie Pelluchon blenden also aus, was ihrer Meinung nach nicht sein darf. Sie kontern auf Kants „Was soll ich tun?“ mit einer Antwort auf die Frage: Was soll ich fühlen?

Damit kehrt ein überwunden geglaubter Zwang zurück. Musste man sich in früheren Zeiten nur vor dem Schöpfer für sein Innerstes verantworten, ordnet Pelluchon implizit die Gerechten und die Ungerechten nach der Verfasstheit ihrer Seelenschätze. Eine strenge Moral waltet hier, die für mühsam erstrittene Werte wie die Freiheit wenig übrig­haben dürfte.