: Zeitreise durch die Erinnerungen
Was bleibt von den Menschen, die uns verließen? Das fragt die schwedische Schriftstellerin Ia Genberg in ihrem preisgekrönten Roman „DieDetails“
Von Carola Ebeling
Fieber verwirbelt die Zeit“, so formuliert es Ia Genbergs Ich-Erzählerin. „Man lässt dort die Deckung fallen, und Gestalten aus der Vergangenheit müssen sich nicht als Gespenster verkleiden.“ Genau hier liegt der Ausgangspunkt für Genbergs vierten Roman „Die Details“, für den die 1967 geborene schwedische Autorin mit dem wichtigsten schwedischen Literaturpreis, dem Augustpriset, ausgezeichnet wurde.
Ihre Ich-Erzählerin liegt mit Fieber im Bett und tritt eine Zeitreise an, die eine Reise durch Erinnerungen ist, genauer: durch Erinnerungen an ihr wichtige Menschen. Auslöser ist eine Widmung in einem Buch, zu dem sie greift. Küsse von Johanna im Mai 1996. Unvermittelt fühlt sich die Erzählerin zurückversetzt in jene Zeit, beide Mitte zwanzig, eine große Liebe.
Genberg lässt ihre Erzählerin im Folgenden eine Art Porträt Johannas, aber auch ihrer selbst in diesen Jahren und eines ihrer Beziehung entwerfen: „Wir richteten uns ineinander ein, wie es nur Menschen tun, die auf ein langes gemeinsames Leben zählen, als hätten wir eine Art Garantieschein erhalten, nichts könne uns vor dem Tod scheiden. […] Mein Leben war Johanna, unsere Gespräche der Platz auf Erden, den wir miteinander teilten.“
In einer fließenden Sprache, die auch dann klar bleibt, wenn die Sätze länger werden und von einer Inhaltsebene auf eine andere springen, lässt Genberg die Atmosphäre Stockholms in den 90er Jahren spürbar werden. Und eine Liebe, die von beider Leidenschaft für die Literatur getragen ist und die Erzählerin in ihrem eigenen Schreiben bestärkt.
Der Ton in diesem schlicht mit „Johanna“ überschriebenen Teil ist dabei auch von Melancholie getragen. Denn Johanna beendet die Beziehung kurz vor der Jahrtausendwende abrupt und kalt. Es ist also auch ein Blick auf einen schweren Verlust.
Auch die drei weiteren bedeutsamen Menschen, denen sich die folgenden Kapitel des Romans zuwenden, sind nicht mehr im Leben der Erzählerin. Niki ist die getriebene Freundin zu Beginn der Studienzeit, die mit der Intensität ihrer Gefühle, die sie selbst nicht kontrollieren kann, andere mitreißt und fasziniert. Die aber am Ende jede Freundschaft in Trümmern zurücklässt, so auch die zur Erzählerin. Sie begegnet Alejandro, als sie das Gefühl hat, „als wäre ich schon mit allem fertig gewesen, was im Leben brennen kann“. Da ist sie Anfang dreißig. Es ist eine Überwältigung, ein auch körperliches Verschmelzen, aber dieses Glühen währt nur kurz. Doch ist er der Vater ihrer Tochter, bleibt aber im Jahr 2000 unauffindbar – heute fast nicht vorstellbar –, sodass sie ihm das nicht mitteilen kann.
Ia Genberg: „Die Details“. Aus dem Schwedischen von Stefan Puschkat. Rowohlt, Hamburg 2023. 144 Seiten, 22 Euro
Die Erzählerin schließt mit einer Erkundung der Mutter, dem Nachvollzug ihrer sie zutiefst durchdringenden Angst. Nach einer Vergewaltigung als Jugendliche hat die Angst sich in ihr eingenistet. Hier mischen sich Empathie, Präzision der Beobachtung und auch Wut über die Willkürlichkeit der Geschehnisse und das Unverständnis der Gesellschaft auf wirklich beeindruckende Weise.
Es ist eine schöne, erzählerisch überzeugende Idee Genbergs, ihren Fragen anhand vierer formal getrennter Teile nachzugehen: Was bleibt uns von den uns bedeutsamen, den von uns geliebten Menschen, die, aus welchem Grund auch immer, nicht mehr in unseren gegenwärtigen Leben sind? Und es eben doch sind. Wer waren wir mit ihnen? Welchen Teil unserer selbst verlieren wir, wenn diese Menschen fort sind? Und wie prägen sie zugleich unser jetziges Sein? Unser Denken, unser Fühlen.
Jedes Kapitel verdichtet Erinnerungen, blickt auf Details, nicht auf die Chronologie. Vier einzelne Porträts, die doch zu einem Puzzle gehören, das unvollständig bleiben muss.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen