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Gotisch verzerrte Freier und Kokotten

Sie badeten nackt, zeichneten ihre Modelle in natürlicher Bewegung, ließen sich vom Fauvismus inspirieren und wollten Kunst und Leben zur Einheit führen: die Künstler der Brücke. In Berlin widmet ihnen die Neue Nationalgalerie nun die Ausstellung „Brücke in Berlin – 100 Jahre Expressionismus“

Ihre Stärke gewinnt die Berliner Ausstellung aus der Druckgrafik – insbesondere aus den Holzschnittarbeiten

von MARCUS WOELLER

Wer in den Jahren um 1910 an schönen Tagen die Moritzburger Seen nahe Dresden besuchte, konnte einer kleinen Gruppe junger Männer begegnen. Sie schwammen, spielten, debattierten, picknickten am Ufer und malten ihre Freundinnen. Außerhalb der Badesaison versuchten sie als Künstlergruppe bekannt zu werden. Warum sie sich allerdings Brücke nannten, kann heute nicht mehr genau rekonstruiert werden. Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und Fritz Bleyl schlossen sich vorgestern vor hundert Jahren zu dem Kollektiv zusammen, das zu einer der bedeutendsten Künstlergruppen des 20. Jahrhunderts werden sollte. Das Jubiläum nehmen die Staatlichen Museen zu Berlin im Joint Venture mit dem städtischen Brücke-Museum zum Anlass für die Retrospektive „Brücke und Berlin“ in der Neuen Nationalgalerie.

„Mit dem Glauben an Entwicklung, an eine neue Generation der Schaffenden wie der Genießenden rufen wir alle Jugend zusammen, und als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt.“ So lapidar definierte die Brücke ihr Programm und erfand ganz nebenbei den Expressionismus, den ersten Beitrag deutscher Künstler zur internationalen Moderne. Im geistigen Umfeld der Lebensreformbewegungen hieß das für Kirchner, Heckel und Schmidt-Rottluff wie für die 1906 zur Gruppe gestoßenen Max Pechstein und Emil Nolde zunächst einmal: zurück zur und vor allem in die Natur. Als Gegenentwurf zum spießigen Wilhelminismus und seiner in manierierten Posen erstarrten Akademiekunst badeten sie nackt, zeichneten ihre Modelle in natürlicher Bewegung und praktizierten einen ungezwungenen Lebensstil. Lange vor dem summer of love lebten sie eine erotische Freizügigkeit aus. Der Umstand, dass einige Modelle wie etwa die häufig porträtierten Artistentöchter Fränzi und Marzella kaum älter als zehn Jahre waren, rückt die Herren Kirchner und Co. dabei in eine reichlich fragwürdige Position, die in der Ausstellung leider keine Aufklärung erfährt.

1911 konnten die Dresdner Mitglieder der Brücke sich dem Sog der Hauptstadt nicht mehr länger entziehen und kehrten Sachsen den Rücken. Berlin befand sich im Zustand der sozialen und kulturellen Expansion. Industrialisierung und massives Bevölkerungswachstum hatten die preußische Residenz in atemberaubendem Tempo in eine Metropole verwandelt, die sich mit London und Paris zu messen suchte. Pechstein, Neuberliner seit 1908, berichtete nach einem Frankreichbesuch voller Begeisterung von den Farbstürmen der „Fauves“, von Matisse und de Vlaminck. Van Gogh und Gauguin hatten vorher schon bleibenden Eindruck hinterlassen.

Das urbane Betriebsklima berührte die Künstler in unterschiedlicher Weise. Kirchner stürzte sich sofort in die Amüsierwelt der Tanzlokale und schafft mit seinen Straßenbildern von gotisch verzerrten Freiern, Kokotten und der Architektur des Potsdamer Platzes die bekannten Inkunabeln des Expressionismus. Der eher introvertierte und intellektuelle Heckel porträtierte Kollegen, Literaten wie die innerstädtische Natur der Kanäle im Tiergarten. Schmidt-Rottluff und Nolde waren besonders von afrikanischer Plastik inspiriert und ließen die expressive Formensprache der damals als primitiv rezipierten Kunst in ihre Gemälde, Aquarelle und Grafiken einfließen.

Den Einfluss von Skulpturen und Kunsthandwerk aus Kamerun oder Reliefs von der pazifischen Inselgruppe der Karolinen dokumentieren die Kuratoren Anita Beloubek-Hammer und Dieter Scholz in großem Umfang. Sie haben nicht nur die Depots der Nationalgalerie und des Kupferstichkabinetts durchforstet, sondern stellen den expressionistischen Gemälden und Grafiken auch Objekte aus dem Ethnologischen Museum gegenüber. Über die Interpretation afrikanischer Formen versuchte die Brücke ihr Darstellungsprogramm zu erweitern. Dies gelang nicht immer, manchmal blieb es bei der Imitation. So schien der Blick der Künstler noch von unbedarftem Exotismus geprägt zu sein. Aquarelle von Bewohnern Neuguineas, die Nolde auf einer pseudowissenschaftlichen Südseereise anfertigte, präsentiert die Ausstellung arglos neben solchen von Blumen und Blattpflanzen.

Ihre stärksten Momente gewinnt „Brücke und Berlin“ in der außerordentlichen Qualität der gezeigten Druckgrafik. Besonders mit der Wiederentdeckung des Holzschnitts entwickeln die Künstler eine immer expressivere Kraft. Schon im Auftaktsaal enthüllt die Ausstellung, wie die Brücke auf die Stilkunst der Jahrhundertwende reagierte. Noldes Porträt „Düsterer Männerkopf“ antwortete als komplett schwarz verschattete Farblithografie in brachialer Einfachheit auf ein ästhetisiertes Selbstbildnis Edvard Munchs. Pechstein und Kirchner lernten den beinahe comicartigen Einsatz der Kontur von Henri Matisses Kohlezeichnungen. In den ausdrucksvollen Kontrasten ihrer Grafik und der groben Stilisierung der Form offenbart sich die originäre Energie der Brücke als Impulsgeberin für den Expressionismus nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch für Architektur und Literatur.

Acht Jahre währte der Zusammenhalt der Brücke. 1913 zerbrach sie an inneren Streitigkeiten. Das aufreibende Leben in Berlin hatte die Künstler gleichzeitig sensibilisiert und nervös gemacht. In leicht kolonialistischer Attitüde gegenüber der Dresdner Periode konzentriert sich die Schau im Mies-van-der-Rohe-Bau der Nationalgalerie auf die Berliner Zeit der Brücke. Das isolierende Chaos der Stadt und die Ahnung des bevorstehenden Kriegs ließen sich immer schwerer mit dem Wunschbild vereinbaren, Kunst und Leben als Einheit zu realisieren. Mit fast 450 Exponaten schildert die Ausstellung Anspruch, Wirklichkeit und Scheitern eines historischen Phänomens – der idealistischen Künstlergemeinschaft.

„Brücke und Berlin – 100 Jahre Expressionismus“, Neue Nationalgalerie Berlin, bis 28. August 2005. Zur Ausstellung ist bei Nicolai ein Katalog erschienen, hrsg. von Anita Beloubek-Hammer, Magdalena M. Moeller und Dieter Scholz, 376 Seiten, 24,90 €

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