„Ich bin eine Pflaume im Herbst“

LIEDERABEND In ihrem neuen Programm in der Bar jeder Vernunft singt Hanna Schygulla Lieder, die aus ihrem Leben erzählen. Darunter Popsongs und deutsches Liedgut, Titel von Brecht, Lennon und Piaf

Pflaumen im Herbst, das sind die, die vom Baum herunterfallen. Die sind reif und wollen auf dem Boden liegen. Die wollen keinen großen Sturm mehr. Ein sanfter Hauch tut’s auch

INTERVIEW HEIKE KAREN RUNGE

taz: Die Fassbinder-Ära liegt rund dreißig Jahre zurück. Kränkt es Sie, wenn Sie immer wieder nach dieser Zeit gefragt werden?

Hanna Schygulla: Nein, meine Gegenwart baut sich auf dieser Vergangenheit auf. Fassbinder war nun mal ein Phänomen, wie es einmal in fünfzig Jahren vorkommt. Seine Filme sind nach wie vor heißes Kino. Das hat mehr Wert als ein Konto auf der Bank. Außerdem habe ich keine andere Wahl, als immer wieder über ihn zu reden. Vor allem im Ausland werde ich ständig auf ihn angesprochen.

Sie haben noch mit anderen wichtigen Regisseuren gearbeitet, Saura, Godard, Ferreri. Seit rund 15 Jahren treten Sie auch als Sängerin mit eigenen Programmen auf. Ist die Arbeit als Solistin eine Art Unabhängigkeitserklärung?

Der Anstoß dazu, diesen Kindertraum vom Singen anzupacken, kam von Alicia Bustamante, die ich bei Dreharbeiten in Lateinamerika kennengelernt habe. Sie leitete das Theatro musicale in Havanna und hat dann auch meinen ersten Liederabend inszeniert. Dass ich mich in dieser Lebensphase auf die überschaubaren Projekte konzentrierte habe, hatte damit zu tun, dass ich mich als Einzelkind ganz auf die Betreuung meiner Eltern eingelassen hatte. In dieser Zeit konnte ich nicht so gewaltige Aufgaben übernehmen. Man konnte jeden Moment gebraucht werden. Da habe ich dann meine eigenen Sachen gebaut, damit sich das alles immer in ein paar Tagen auf die Bühne stellen ließ.

Ihr aktuelles Songprogramm „Aus meinem Leben“ will eine musikalische Biografie sein, die die verschiedenen Stationen Ihres Lebens abdeckt. Ein Fassbinder-Titel ist enthalten, ansonsten Brecht, deutsches Liedgut, US-Popklassiker, lateinamerikanische Volkslieder. Wie privat ist denn diese Liederliste?

Sehr privat. Da gibt es das Kindertotenlied von Mahler. Das singe ich, weil meine Schulfreundin damals plötzlich verstorben ist. Zu dem Zeitpunkt war ich 14. Es geht um diesen jähen Einbruch der Erkenntnis von der Sterblichkeit. Oder ein Jahr später das Piaf-Lied „Milord“. Ich habe es mit 15 im berühmten Wunschkonzert von Fred Rauch gehört. Dass man sich so reinschmeißen kann wie die Piaf, hat mich damals vom Stuhl gehoben. Piaf ist wohl auch der Grund, warum ich mit 19 als Au-pair nach Paris gegangen bin. Andere Stücke sind wiederum repräsentativ für die Erfahrungen meiner Generation. „Imagine“ fasst zusammen, woran wir damals geglaubt haben, no possession, peace, no hunger. Diese Sachen sind in dem Lied so simpel ausgedrückt, das war das Glaubensbekenntnis unserer Zeit.

Wofür steht der Brecht-Schlager „Surabaya Johnny“? Den singen Sie sogar morgens auf der Probe mit ganz viel Herzblut.

Das erstaunt Sie? „Johnny“ ist ein Beispiel dafür, wie man aus einem Lied ein Stück Theater machen kann. Vielleicht ist es das unprivateste Stück. Es ist nicht so, dass ich mich als misshandelte Frau fühle. Aber jeder kennt das, dass er mehr liebt, als er geliebt wird. Jeder hat mal einen Johnny gehabt. Vielleicht hätte ich aber am frühen Morgen auf der Probe besser das Stück über die Pflaumen im Herbst singen sollen. Unter den Liebesliedern von Brecht ist das zurzeit mein liebstes. Schließlich bin ich selber eine Pflaume im Herbst.

Wie muss man das verstehen?

Pflaumen im Herbst, das sind die, die vom Baum herunterfallen. Die sind reif und wollen auf dem Boden liegen. Die wollen auch keinen großen Sturm, keinen Orkan mehr. Ein sanfter Hauch tut’s auch.

Wie wichtig ist das Thema Älterwerden für Sie?

Ich würde nicht sagen, dass das ausschließlich mein Thema ist, aber es kommt auch vor.

Im ersten Kapitel Ihrer Song-Biografie, überschrieben mit „Vor und nach der Geburt“, gibt es das Lied „Transport“ des jüdischen Komponisten Norbert Glanzberg. Auschwitz als der lange Schatten, der über Ihrer Generation liegt?

Auschwitz lag vor unserer Tür. Ich bin in der Nähe von Kattowitz geboren, und meine Mutter hat mir später erzählt, dass sie gesehen hat, wie die Juden in ihren gestreiften Anzügen zu IG Farben getrieben wurden. Komischerweise habe ich sie nie gefragt, ob sie gewusst hat, dass sie vergast werden.

Die Fassbinder-Filme waren das Kino einer Generation, die sich nicht auf die Nachkriegserzählungen der Eltern verlassen konnte. Waren in Ihrer Familie Krieg und Holocaust Thema?

Meine Mutter konnte auf Hitler nicht ab, mein Vater hatte an Hitler geglaubt. Der Riss ging durch die Familie. Er hat auch später nie davon ablassen können, manches aus der Zeit doch noch gut zu finden. Dass Arbeit geschaffen und Autobahnen gebaut wurden, diese Klischees waren nach wie vor in seinem Kopf. Die Judenvernichtung wollte er nie ganz an sich ranlassen. Darüber hat es zwischen uns viele Auseinandersetzungen gegeben. Keine Diskussionen, sondern richtige Hassausbrüche waren das.

Die „Somnambule aus dem Niemandsland“, wie man Sie mal tituliert hat, kommt gebürtig aus Schlesien. Gerade in linken Kreisen aber galten die Flüchtlinge und Vertriebenen in der Nachkriegszeit als Revisionisten, wenn nicht als Inkarnation des deutschen Nazi-Spießers.

Ein Flüchtlingskind zu sein, wie man mich in Bayern immer hieß, war für mich nicht weiter tragisch. Im Gegenteil, ich fand das immer interessant, noch dieses Slawische in mir zu haben. Da musste ich mich nicht so stark mit dem Deutschen identifizieren. Das hat mich bereichert.

Das Deutschlandbild der Fassbinder-Filme der Siebziger war auch geprägt von der Angst, dass sich die Geschichte, dass sich Weimarer Verhältnisse und Faschismus wiederholen werden. Wie sehen Sie dies im Rückblick?

Diese Angst habe ich immer noch, und vielleicht ist sie gegenwärtig sogar begründeter als damals. Einfach deshalb, weil zu vieles zu lange zugelassen wird. Die Nazis sind heute stärker denn je.

Sind Sie für ein NPD-Verbot?

Ja, diese Partei kann man nicht behandeln wie alle anderen, weil schon einmal so viel Zerstörung von Deutschland ausgegangen ist. Damals wurde auch argumentiert, lass sie mal bellen, wird schon nicht schlimmer werden. Da sollte Deutschland schon aufpassen und endlich handeln.

Der deutsche Film hat neuerdings auch international wieder ein besseres Standing. Können Sie mit dem aktuellen Kino aus Deutschland etwas anfangen? Ist der deutsche Film politisch noch interessant?

Sehr beeindruckend fand ich Robert Thalheims „Am Ende kommen Touristen“. Der zeigt auf sehr intelligente Weise, wie sich das Thema Auschwitz weitertransportiert. Ganz unmelancholisch und sehr direkt, so wie der junge deutsche Film jetzt arbeitet, immer an der Grenze zum Dokumentarfilm. Der Film mit dem kunstvollen Licht als Perle, das kommt vielleicht irgendwann wieder als Strömung, aber im Moment spielt die Ästhetik nicht mehr die große Rolle. Christian Petzold ist vielleicht derjenige, der am meisten Filmer ist. „Jerichow“, auch ein Film, der ganz subtil mit deutschen Verhältnissen und Fremdenhass zu tun hat, fand ich auch ganz ausgezeichnet.

Ihre Rolle als gealterte Hippie-Mutter in Fatih Akins „Auf der anderen Seite“ hat Ihnen eine Art von Comeback im deutschen Kino beschert. Beerbt Akin das Anti-Heimat-Kino, das Fassbinder gemacht hat?

Deutsche Identität ist etwas, wonach man heute vielleicht nicht mehr suchen muss, weil die Vermischung das Thema ist. Aber man muss deshalb nicht gleich von Antiheimat sprechen. Das finde ich so toll an dem Phänomen Fatih Akin: Wenn ihm etwas Gutes gelingt, freuen sich die Deutschen und die Türken.

■ Hanna Schygulla und ihr Pianist Stephan Kanyar werden vom 1. bis 6. September im Spiegelzelt der Bar jeder Vernunft gastieren