Europa als Gerüst

Die Open-Air-Ausstellung „Ein neues Europa 1918–1923“ gibt in Bremen Einblicke in die Nachkriegszeit in Ostmitteleuropa. Sie erzählt von Verlust- und Gewalterfahrungen, die im westeuropäischen Gedächtnis kaum präsent sind

Bilder, Karten und Filme vermitteln rund ums Gerüst Fakten und individuelle Geschichten Foto: Landeszentrale für politische Bildung Bremen

Von Ann-Christin Dieker

Ein mit Bannern bespannter metallener Kasten steht vor dem Haus des Reichs. Es ist eines der hübscheren Gebäude Bremens mit ambivalenter Vergangenheit: Dort hatte einst Europas größter Wollkonzern seinen Sitz, später der nationalsozialistische Gauleiter und die US-Besatzungsbehörden, heute ist es das Haus des Finanzamts. Dieses Gerüst ist nicht Teil einer der vielen Baustellen ringsum, sondern ein Stück mobile Erinnerungskultur: Die Freilichtausstellung, initiiert von europäischen und bremischen Organisationen in Kooperation mit der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bremen, soll an die Folgen des Ersten Weltkrieges in Ostmitteleuropa erinnern.

Am Freitag vergangener Woche eröffnete Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) die Ausstellung. In seiner Rede forderte er eine „gemeinsame europäische Erinnerungskultur“. Darin müsse die eigene Sichtweise zur Diskussion gestellt werden, man müsse sich gegen jede Form gewaltsamer Unterdrückung positionieren.

Inhaltlich trifft die Ausstellung in diesen Zeiten einen wunden Punkt. „Nach dem Großen Krieg – Ein neues Europa 1918-1923“ lautet ihr Titel, einen Monat ist sie auf dem Rudolf-Hilferding-Platz zu sehen. Auf Bildern, Karten und mit Filmen in und um das Gerüst werden individuelle Geschichten mit historischen Fakten verbunden. So soll ein Bild der Zeit zwischen 1918 und 1923 in Ostmitteleuropa gezeichnet werden, das nationale, regionale und generationale Unterschiede abbildet. Im Fokus stehen der Wiederaufbau und die Aufarbeitung verschiedenster Erfahrungen im Ersten Weltkrieg.

„Ein neues Europa“ klingt hoffnungsvoll. Gegründet war dieses damals neue Europa jedoch auf Verlust- und Gewalterfahrungen, die im westeuropäischen Gedächtnis kaum präsent sind. Der Historiker Burkhard Olschowsky vom Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, führt nach der Eröffnung durch die Ausstellung und verweist auf das Versagen politischer Kommunikation im Anschluss an die Kriegsjahre.

Er spricht von einem Vakuum der Nicht-Kommunikation unter den Kriegsbeteiligten, nicht zuletzt aufgrund gegenseitiger Schuldzuweisungen und wegen des Aufkommens nationalistischer Bewegungen, die in Deutschland in Propagandageschichten wie die „Dolchstoßlegende“ mündeten: die Behauptung, die deutsche Armee sei „im Felde“ unbesiegt gewesen und habe erst durch oppositionelle „vaterlandslose“ Zivilisten aus der Heimat einen „Dolchstoß von hinten“ erhalten.

Die Wanderausstellung wurde bereits in 14 Ländern aufgebaut, zuletzt in Brüssel – dort, wo sich der Europäische Rat vergangene Woche auf die sogenannte „Krisenverordnung“ als letzter Baustein des geplanten Gemeinsamen Europäischen Asyl-Systems (GEAS) geeinigt hat. Diese umstrittene Verordnung ermöglicht es der Europäischen Union (EU), bei einem Anstieg von Fluchtmigration den Aufenthalt von Flüchtenden an den Grenzen unter haftähnlichen Bedingungen zu verlängern. Im Ergebnis könnten deutlich mehr Menschen von den strengen Grenzverfahren betroffen sein.

Als Grund für die Notwendigkeit der Verordnung, die laut dem Migrationsrechtler Maximilian Pichl Fluchtbewegungen als Gefahr pauschalisiert, führt die EU unter anderem die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze an. Flüchtende Menschen werden dort durch den belarussischen Diktator Lukaschenko als Druckmittel gegen die EU instrumentalisiert, um dann in Polen im Rahmen von sogenannten Push-backs gewaltsam zurückgedrängt zu werden.

Vor diesem Hintergrund schaffen kooperative Ausstellungen wie die Bremer Open-Air-Ausstellung Raum für unterschiedliche Perspektiven, sie leisten historische Aufarbeitungsarbeit und sind ein Ansatz, Stimmen hörbar zu machen: ein Gerüst als Metapher für einen Aufbau, für einen Prozess.

Was unklar bleibt, ist, wie die Banner gemeint sind, die an den oberen Streben des Konstruktes angebracht sind. Darauf stehen Schlagworte wie „Democracy“, „Conflicts“, „Peace“ und „Borders“. Handelt es sich um Ausblicke oder Leitbilder, sollen damit Gegensätze oder Begleiterscheinungen bezeichnet werden? Sind Europa und die EU ein Gerüst, auf dem man aufbauen kann? Oder bleibt all das nicht mehr als ein Konstrukt?

„Nach dem Großen Krieg – Ein neues Europa 1918-1923“: bis 29. 10., Bremen, Rudolf-Hilferding-Platz (vor dem Haus des Reiches)