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Zum Demokratieverständnis in der Anthroposophie

Wie mit dem Spannungsfeld zwischen Demokratie und wissenschaftlicher Erkenntnis, zwischen Autorität und Freiheit umzugehen ist, hat bereits Rudolf Steiner beschäftigt. Seine Überlegungen dazu zielen auf eine Balance dieser vermeintlichen Gegensätze

Von Jonas Rybak

Schon der Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, habe die Demokratie abgelehnt, behauptet etwa der Journalist Peter Bierl. Der Steiner-Biograf Helmut Zander hält die Anthroposophie aufgrund von Steiners schwer überprüfbaren „höheren“ Erkenntnissen schlicht für demokratieuntauglich. Die „nicht demokratisierbaren“ Einsichten Steiners vertrügen keine Mehrheitsentschlüsse. Im Gegensatz dazu stehen Steiner-Aussagen wie diese: „Dass Demokratie restlos das Völkerleben durchdringen muss, sollte eine selbstverständliche Erkenntnis für alle sein, die einen offenen Sinn für das geschichtlich Gewordene haben.“ – Wie passt das zusammen?

Im Grunde verbirgt sich in dem Thema ein Grundsatzproblem, die Frage nämlich, wie zwei Seiten zueinander stehen, die durchaus in Konflikt kommen können: einerseits die Gewinnung klarer wissenschaftlicher Erkenntnisse und andererseits deren gesellschaftliche Umsetzung. Was zum Beispiel, wenn bestimmte Erkenntnisse vorliegen, aber die Mehrheit für eine Umsetzung fehlt? Was hat dann Vorrang: die Wahrheit oder die Mehrheit?

2021 spielte Thomas Brussig in der Süddeutschen Zeitung den Fall durch, es trete eine 30-mal tödlichere Krankheit als Corona auf: „Da wäre es glatter Selbstmord, für Ratschläge aus der Wissenschaft erst nach Mehrheiten, Kompromissen und Konsensen zu suchen.“ Schon für Corona forderte er „mehr Diktatur“ auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Im Übrigen bedeutet Einsicht ja auch noch lange nicht Handlungsbereitschaft. Das wissen etwa die Fridays-for-Future-Demonstrant:innen genau, die sich einer Gesellschaft gegenübersehen, die Klimaschutz mehrheitlich befürwortet, aber nur bedingt und träge danach handelt.

In Steiners Werk findet man immer wieder Überlegungen dazu, wie dieses Spannungsfeld geschichtlich entstand und wie heute damit umzugehen wäre. Zunächst einmal hält er es für eine Errungenschaft, dass die Menschheit in der Neuzeit eine Art kaltes, abstraktes, ergebnisoffenes Forschen entwickelte. Das hat den Nachteil, die erwähnten Inkonsequenzen zu ermöglichen: Ich kann begreifen, dass Autofahren der Umwelt schadet – und trotzdem weiterfahren. Anders als in früheren Kulturen gibt es keine enge, halb magische Verbindung zwischen meinem Weltbild und meinem Handeln. Steiner sah jedoch gerade darin das Ursprungsmoment echter Freiheit. Denn, so seine Deutung, nur durch dieses distanzierte, abstrakte Denken, „das keinen Zwang auf den inneren Menschen ausübt, kann der Mensch zur Freiheit kommen.“

Ist aber diese Freiheit dann nicht gerade ein Problem? Und läge es nicht nahe – Mehrheiten hin oder her –, per Gesetz ein „Follow the Science“ zu erzwingen? Damit würde gerade eine Übermacht der Naturwissenschaft demokratiefeindlich werden.

Die Anthroposophie sucht hier eine Balance, gesteht jedoch beiden Seiten ihr volles Gewicht zu. Man müsse alles in eine Beziehung zur Naturwissenschaft bringen, „weil Naturwissenschaft heute nicht übergangen werden darf“. Diese strikte Parteinahme Steiners ist aber kein Plädoyer für eine Schönwetter-Demokratie, die in Krisensituationen suspendiert und den wissenschaftlichen Fakten untergeordnet wird. Naturwissenschaft muss die volle Freiheit haben, ihre Ergebnisse – seien sie auch noch so unbequem – kundzutun, eine gesellschaftliche Umsetzung kann sie jedoch nicht erzwingen. Für Steiner ist Demokratie keinesfalls die einzige Möglichkeit, im Sozialen zu einer Einigung zu kommen, aber die einzige, die mit Zwang arbeiten darf. Demokratisch gefundene Gesetze haben das Recht, eine Einhaltung auch von Uneinsichtigen oder von der Minderheit einzufordern.

Das Spannungsfeld bleibt

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Auch für seine eigenen „höheren“ Einsichten hatte Steiner keinen Herrschaftsanspruch. Ihm war bewusst, dass gesellschaftliche Probleme nur gemeinsam gelöst werden können, „dass jedes soziale Einzelurteil falsch ist“. Auch das seine. Als er kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs gefragt wurde, ob es nicht gerechtfertigt sein könne, etwas so Heilsbringendes wie seine politische Methode, die „Soziale Dreigliederung“, autoritär einzuführen, wies er dies scharf zurück. Mit den besten gesellschaftlichen Ideen könne man nichts erreichen, „wenn man nicht getragen wird von der Erkenntnis und Einsicht der wirklichen Majorität der Bevölkerung“.

Die Anthroposophie wendet sich also weder gegen Demokratie noch gegen Naturwissenschaft. Sie hilft sogar, den möglichen Widerspruch der beiden in eine Waage zu bringen. Zwar löst auch dieser Balanceakt das Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Demokratie, zwischen Fakten und freier Meinungsbildung, nicht auf. Aber er hilft, die Berechtigung in beidem zu erkennen, und gibt Mut zur einzig zeitgemäßen Verbindung beider Welten: zu ehrlicher Überzeugungsarbeit.

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