DER GESUNDE MANN
: Viele Zähne

Ich rechnete mit dem Schlimmsten

Alles hatte sich wohl auch deshalb so sehr verzögert, weil ich anfangs etwas falsch verstanden und nicht nachgefragt hatte. Vor jedem Termin hatte ich jedenfalls gedacht, sie würde mir vielleicht in den Kiefer bohren. Vielleicht auch nicht. Eher nicht. Es war aber möglich. Ich war darauf eingestellt. Deshalb war mir jeden Abend vor den Behandlungen ein bisschen feierlich zumute. Und jeden Morgen im U-Bahnhof hatte ich das Gefühl, eine große Reise zu unternehmen.

Déjà-vus kamen in Ku’damm-Nähe vorbei. Ich atmete tief durch, bevor ich die Treppe zur Zahnarztpraxis hochging. Dann setzte ich mich in den Behandlungsstuhl, rechnete mit dem Schlimmsten, doch nichts Schlimmes geschah. Es war entspannt. Die braungebrannte Zahnärztin erzählte, sie hätte in Ägypten viele Leute gesehen, die nur noch einen Zahn im Mund gehabt hatten. Die Gebissform, die sie mir anpasste, schmeckte nach Kaugummi. Es war ein Schritt in die richtige Richtung, plötzlich wieder so viele Zähne im Mund zu haben. Sie bohrte auch nicht in den Kiefer. Vielleicht hatte ich mich damals verhört oder es war nur ein Scherz gewesen oder sie hatte tatsächlich vorgehabt, mir in den Kiefer zu bohren, und ich hatte dann gleich so panisch geguckt, dass sie dachte: „das lassen wir mal“.

Nun hatte ich zehn Zähne mehr. Es war super! Fast wie vor elf Jahren. Ich dachte an T, dem vor seiner Operation viele Zähne gezogen worden waren. Ich hatte gesagt, jetzt siehst du wieder gut aus, und er hatte geantwortet, eigene Zähne seien doch etwas anderes. Dann ging ich durch die Goltzstraße auf der Suche nach dem einen Café, in dem Bernd Cailloux’ Roman „Gutgeschriebene Verluste“ zunächst und zumeist spielt. Es war ein warmer Frühlingstag. Da hinten war die „Ruine“ gewesen. In zwei Apotheken waren Schwarz-Weiß-Bilder ausgestellt unter dem Titel: „der gesunde Mann“, „der schöne Mann“. DETLEF KUHLBRODT