Chiles Geschichte in Protestsongs

Cristofer Rodríguez

Aus dem Spanischen: Ole Schulz

Violeta Parra – Yo canto a la diferencia (1961)

Zu den 150. Unabhängigkeitsfeiern Chiles nahm die legendäre Folkloresängerin dieses Lied im Tonada-Rhythmus auf. In zehn Strophen und ohne Refrain erzählt sie von den Feierlichkeiten und der Spannung, die durch die Gegensätze an dem so symbolträchtigen Datum entsteht: der Liebe zu nationalen Emblemen gegen die soziale Ausgrenzung vieler. Es ist der erste Protestsong in der Geschichte Chiles und vereint drei Elemente der Figur Violeta Parra: die Rettung der Folklore durch ihre Übertragung ins Städtische, die Persönlichkeit der Liedermacherin und ihre kritischen, anklagenden Texte.

Quilapayún – El Pueblo unido jamás será vencido (1973)

Mit „Gracias a la vida“ von Violeta Parra und „El derecho de vivir en paz“ von Víctor Jara ist „Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden“ das vielleicht weltweit bekannteste chilenische Lied. Der von Sergio Ortega komponierte und von der Folkloregruppe Quilapayún interpretierte Song wurde nur Wochen vor dem Staatsstreich von 1973 uraufgeführt, um alle Kräfte angesichts des drohenden Zusammenbruchs der Demokratie zu mobilisieren. Der Marsch gilt heute als Vertonung eines universellen Mahnrufs, der fünf Jahrzehnte Geschichte und Tausende Kilometer Breitengrade umspannt.

Víctor Jara – Manifiesto (1974)

Ein Lied, in dem der berühmte Sänger die ganze Bedeutung seiner Musik, seiner künstlerischen Sensibilität und seiner politischen Subjektivität zum Ausdruck bringt. Ein Lied ergebe Sinn, „wenn es in den Adern pocht“, lautet darin eine Zeile, die Jara kurz vor seiner brutalen Hinrichtung fünf Tage nach dem Staatsstreich von 1973 schrieb. „Manifiesto“ wurde von seiner Frau Joan Turner 1974 posthum im englischen Exil veröffentlicht und mit der Zeit zu einem ethischen Leitfaden für kommende chilenische Liedermacher:innen.

Ana Tijoux – Shock (2011)

Chiles bedeutendste Rapperin fand in der aufbrausenden Studentenbewegung von 2011 den idealen Rahmen, um die These der Aktivistin und Journalistin Naomi Klein über das Laboratorium, das Chile für die Durchsetzung des neoliberalen Systems war, in Musik umzusetzen. „Shock“ von Ana Tijoux ist ein prägnanter und intelligenter Song, der zum Soundtrack der Proteste wurde, die die erste Regierung des Unternehmers Sebastián Piñera in Schach hielten.

Bonus-Track: LASTESIS – Un violador en tu camino (2019)

Musik nicht mehr als Lied, sondern als Aktion. Das feministische Kollektiv LASTESIS aus Valparaíso komponierte inmitten der sozialen Revolte von 2019 eine Kunstperformance (mit Musik, Reden, Kostümen und einer Choreografie), um das Patriarchat und seine unausweichliche Verbindung mit dem Unterdrückungsapparat des Staates anzuprangern. In nur zwei Wochen verbreiteten Millionen von Frauen auf der ganzen Welt die Performance in den wichtigsten Hauptstädten des Planeten und machten sie zu einer der Hymnen des Feminismus im 21. Jahrhundert.