kritisch gesehen: „unbekanntes braunschweig“ von gerd spies: Die Bürgerstadt mit dem Bleistift interpretiert
Das Jahr 1031: für Historiker ein fundamentales Datum. Nein, Scherz beiseite, fundamental ist es nur für die Lokalpatriot:innen in Braunschweig: Aus eben diesem Jahr datiert die erste urkundliche Erwähnung der Stadt als „Brunesguik“, in einer Weihenotiz des Halberstädter Bischofs für die Kirche St. Magni. Der Name der Stadt mutierte im Spätmittelalter zu Brunswiek, ab Mitte des 16. Jahrhunderts dann zu Braunschweig. Stützt sich die aktuelle Geschichtsforschung auf dieses Datum, favorisierte man im 19. Jahrhundert eine alternative Gründungssaga aus dem 13. Jahrhundert, der zufolge die Stadt bereits seit 861 existierte. Folglich feierte man im August 1861 das 1.000-jährige Gründungsjubiläum – und 2031 wird es neuerlich begangen.
Im Vorfeld dieser Feierlichkeit ist der Band „Unbekanntes Braunschweig“ erschienen. Wer sich dabei auf ein „BS Noir“ oder lokale „Lost Places“ freut, sollte den Untertitel beachten: „Stadtansichten aus dem 18. Jahrhundert“. Die muten, wie es prominent das Vorwort erwähnt, „laienhaft und mitunter naiv“ an, sind also unter künstlerischen Gesichtspunkten eher unerheblich. Aber, und das macht die Erkenntnisqualität des reproduzierten Konvoluts von über 100 kleinformatigen Bleistiftzeichnungen eines gewissen Johann Jacob Collier aus: Sie zeigen die hansische Stadtrepublik, die Braunschweig ab Mitte des 13. Jahrhunderts bis 1671 war, bis zur Unterwerfung durch die Welfenherzöge. Nach etwa dreiwöchiger Belagerung und Beschießung siegten damals Herzog Anton Ulrich und sein Bruder Rudolf August. Es folgte der Umbau der Bürger- zur Residenzstadt für Adel, Beamte und Militär. Der Hofstaat blieb zwar noch bis 1753/54 in Wolfenbüttel, aber trotzdem: ein fataler Nimbus, der bis heute die politische wie kulturelle Selbstvergewisserung der Stadt dominiert.
Hansische Lebensfreude
Das bürgerlich-hansische Braunschweig hingegen, so scheint es, war von praller Lebensfreude. Wo immer man hinschaut: Schänken, Gasthäuser und Herbergen mit Namen wie „Taverne zum Mönch am Petersthore“, „Goldener Löwe“ und „Stadt Leipzig“, aber auch „Zur leeren Tasche“. Untergebracht waren sie in windschiefen, einst wohl stattlichen Fachwerkhäusern, bei etwas gehobenerem Standard mit massivem Erdgeschoss in Naturstein.
Um 1790, der Entstehungszeit der Collier’schen Zeichnungen, waren sie größtenteils dem Abriss geweiht, mussten einem repräsentativen Bauprogramm weichen. Das war im Prinzip schon in vollem Gange, das demonstrieren etwa die aus Frankreich übernommenen Réverbères, mittig über der Straße aufgehängte Laternen als absolutistische Herrschaftssymbole. Dennoch blendete Collier entsprechende Baumaßnahmen aus, wo immer es ging. Am Hagenmarkt etwa wählt er seinen Standpunkt so, dass das herzogliche Opernhaus, bereits 1690 unter Einbeziehung eines ehemaligen Rathauses eröffnet, nicht zu sehen ist.
Niemand weiß, was Collier, der von Beruf „Kourier“, Bote, war und die Stadt und ihre Winkel bestens gekannt haben muss, zu dieser Interpretation Braunschweigs verleitet hat. Aber vielleicht hilft Colliers etwas jüngerer Zeitgenosse Ernst August Klingemann weiter: „Gegenüber in der Vorstadt bricht ein Dieb in einen Palast ein; aber es ist mein Revier nicht“, schreibt der Literat, tätig am erwähnten Opernhaus, in seiner zehnten Nachtwache des Bonaventura; „so mag er einbrechen!“ Bettina Maria Brosowsky
Gerd Spies: Unbekanntes Braunschweig, Wallstein-Verlag, Göttingen 2023. 259 S., 140 Abb., 38 Euro; E-Book 37,99 Euro
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