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Ausgehen und rumstehen von Andreas HartmannWo man noch so laut sein kann, dass einem danach die Ohren klingeln

Foto: privat

Was ist das denn? Sieht aus wie die Fuckparade, hört sich aber an wie der Evangelische Kirchentag, bei dem gleich Margot Käßmann eine Rede für den Frieden halten wird. Da ziehen letzten Samstag wie üblich bei der Anti-Liebesparade die Gabba-Freaks durch die Straßen, und auf den Mini-Trucks legen die DJs alles auf, was schnell und rabiat klingt. Allein: Man hört kaum etwas. Aufgrund behördlicher Auflagen dürfen in diesem Jahr nur 90 Dezibel aus den Lautsprechern dringen, damit bringt man keine Fenster in den anliegenden Wohnungen zum Klirren. Die DJs versuchen verzweifelt, die Pegel immer mal wieder höher zu drehen, bis sie dann ganz offensichtlich wieder zurückgepfiffen werden. Auf die Frage, ob das wirklich bis zum Schluss so bleiben soll, sagt eine Polizistin: So ist es. Dabei ist der eigentliche Reiz der Fuckparade ja, dass da ein Tross von Halbnackten und Fetischklamottenträgern am Nachmittag zur besten Kaffee-und-Kuchen-Zeit zu ohrenbetäubendem Krach umherzieht und nichts ahnende Passanten sich fragen, ob sie aus Versehen in die außer Kontrolle geratenen Dreharbeiten zum nächsten Mad-Max-Film verirrt haben. Bei 90 Dezibel aber reagiert niemand mehr geschockt und damit geht der ganze Witz dieser Parade ein wenig flöten. Berlin war doch eigentlich immer stolz darauf, nicht München zu sein. Aber das kann man wahrscheinlich langsam auch vergessen.

Beim Atonal, bei dem etwa ein Act wie Sandwell District zu erleben ist, dessen Industrial-Techno auch auf der Fuckparade gefeiert würde, darf man glücklicherweise noch so laut sein, dass einem danach die Ohren klingeln, so wie es sein soll. Am Samstag kann man sich dort auch fragen, ob man ein paar der Personen in Lack und Leder nicht auch schon bei der Fuckparade gesehen hat.

Dass ein Erhöhen der Lautstärke dem Publikum nicht zwangsläufig nur Freude bereitet, erlebt man dann am Sonntag beim Auftritt von Alexander von Schlippenbach mit einem Star-Quartett im Kreuzberger Exploratorium. Am Anfang des Konzerts gibt es Probleme mit dem Sound, manche sind mit diesem aber offensichtlich die ganze Zeit über unzufrieden. Und verlangen, dass fortan unverstärkt, also akustisch, weitergespielt werden möge. Wahrscheinlich in der Hoffnung, dass so das Zusammenspiel der vier Musiker noch organischer wirken würde. Oder ist es manchen doch zu laut? Im Publikum, in dem sich die meisten im klassisch gesetzten Free-Jazz-Alter befinden, sieht zumindest niemand so aus, als wäre er oder sie bereits bei der Fuckparade gewesen, in der Hoffnung, sich hier eine echte Dröhnung abzuholen.

Das Exploratorium, das sich selbst „Raum für Improvisation“ nennt, feiert mit dem Konzert der Jazzprominenz, zu der auch alte Free-Jazz-Recken wie Barry Altschul an den Drums, Joe Fonda am Kontrabass und der Berliner Veteran Rudi Mahall an der Bassklarinette gehört, seinen Einstand an neuer Wirkungsstätte. Man befindet sich nun in der Zossener Straße, gleich ums Eck zur Bergmannstraße. Also an einem Ort mit ordentlich Laufkundschaft und nicht mehr, wie zuvor, irgendwo im Hinterhof, wohin sich niemand unwissentlich verirrte.

Bei 90 Dezibel aber reagiert niemand mehr geschockt, damit geht der Witz ein wenig flöten

Vorne gibt es nun ein Restaurant, und an der Theke rechts vorbei geht es zum neuen Konzertsaal. „Vorher hatten wir einen Ort für Workshops, in dem auch Konzerte stattfanden, jetzt haben wir einen Konzertsaal, in dem es auch Workshops geben wird“, so Exploratorium-Betreiber Matthias Schwabe-Hermann zur neuen Lage. Fortbildung in der Improvisationskunst in allen nur erdenklichen Bereichen vom Theater bis zur Pädagogik, wird es also auch weiterhin in seinem Laden geben. Aber auch solche hochkarätigen Konzerte wie dieses. Mit einem 85-jährigen von Schlippenbach, dem man anmerkt, dass ihm alleine schon das Gehen nicht mehr ganz leicht fällt. Aber wenn er sich dann über die Tasten seines Flügels beugt und ein wenig so spielt wie sein großer Liebling Thelonious Monk, dann sieht man da immer noch Glück in seinem Gesicht. Auch wenn sein Spiel eindeutig zu leise abgemischt wird.

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