Es droht wieder Unheil

Der Libanon versucht sich von der Krise im Nachbarland abzuschotten. Anhänger und Gegner von Assads Regime halten sich zurück

„Das ganze Land weigert sich, zur Kenntnis zu nehmen, was in Syrien geschieht“

GHASSAN, AKTIVIST VON LAÏQUE PRIDE

AUS BEIRUT GABRIELA M. KELLER

Eine stark geschminkte Frau mit schwerem Oberkörper und weizenblonden Haaren sitzt in einer kleinen Galerie und blickt schweigend auf die Fensterfront. Draußen ist es längst dunkel. Im Glas spiegelt sich der hell erleuchtete Ausstellungsraum, die Ölgemälde an den Wänden, seitlich von ihr das Buffet, die Gäste, die sich um sie gruppiert haben.

May Chidiacs Stimme klingt rau, als sie anhebt, ihre Geschichte zu erzählen. Die frühere Starmoderatorin lässt die Erinnerungen zurückkehren, an ihre Kindheit in einem Beiruter Christenviertel, an den Bürgerkrieg. Eines der ersten Bilder, die sich ihr ins Gedächtnis gebrannt haben, waren die Graffiti an den Mauern. „Wisse, wer deine Feinde sind.“ Damals marschierten syrische Truppen in den Libanon ein. Sie folterten, verhafteten, ließen Tausende verschwinden. Der Krieg im Libanon ist lange vorbei; die syrische Besetzung endete vor sieben Jahren. Doch die Journalistin muss dieser Tage wieder häufiger an diesen Satz denken. „Wir haben so viel unter diesem Regime gelitten“, sagt sie.

May Chidiac hat ihr ganzes Leben für die Unabhängigkeit des Libanon von Syrien gekämpft. Es ist Zufall, dass sie noch lebt. Im Herbst 2005 wurde ein Mordanschlag auf sie verübt. Die Bombe riss ihr den linken Arm ab, das Bein unterhalb des Knies. Doch sie hat sich nicht einschüchtern lassen. Nur steht sie mit ihrer Kompromisslosigkeit plötzlich ziemlich alleine da. Die Furcht, dass die Revolte in Syrien die fragile Machtbalance im Libanon aus den Angeln heben könnte, sitzt tief und hat selbst den Gegnern von Assads Regime die Sprache verschlagen. May Chidiac gehört den maronitischen Christen an, die zu den erbittertesten Feinden des Regimes Assad im Libanon zählen. Doch im Moment scheuen die Christen davor zurück, Stellung zu beziehen. Die Angst der Minderheit vor Chaos und Gewalt ist stärker als der traditionelle Hass. Der maronitische Patriarch Beschara Butros Rai hat Assad sogar offen in Schutz genommen: Man müsse „dem armen Mann“ Zeit für Reformen geben.

„Der arme Baschar al-Assad, welche Schande“, ruft May Chidiac, wirft ihre rechte Hand in die Luft; die Fingernägel glänzen kirschrot, auch an der Prothese. „Es kann doch nicht sein, dass wir Christen jetzt Assads Regime verteidigen!“ Aber was wird es für den Libanon bedeuten, falls das Regime tatsächlich ins Taumeln gerät? „Vielleicht wäre es eine Katastrophe für uns“, sagt sie, „vielleicht ein Segen.“ Dann wuchtet sie sich hoch; Schritt für Schritt steuert sie auf den Ausgang zu. Der Stock, auf den sie sich stützt, klickt leise auf dem goldbraunen Parkett.

Die Galerie liegt in Hamra, dem weltoffensten Viertel von Beirut. Auf der Hauptstraße ist noch viel los; Taxis hupen, laute Musik wummert aus den Bars. Nur einige Details passen nicht ins Bild der eleganten Mittelmeermetropole, die Schusslöcher in den Mauern, die schwer bewaffneten Soldaten an der Straße. Auf einem Mauervorsprung einer Seitenstraße kauern drei Männer. Chaled, der jüngste von ihnen, tritt vor. Seinen richtigen Namen nennt er nicht. Alles an ihm wirkt auf Angriff und Verteidigung angelegt, der Blick ist abweisend. Er hält den Staat Libanon für einen historischen Fehler, für eine Folge westlicher Einmischung. „Wir unterstützen das Regime in Damaskus, weil es den Widerstand unterstützt“, sagt er. Gemeint ist der Kampf gegen Israel und die Abwehr aller Versuche des Westens, Einfluss auf die Politik der arabischen Länder zu nehmen. Chaled gehört zur Syrischen Sozialistischen Nationalistischen Partei (SSNP), die für den Anschluss des Libanon an Syrien eintritt. In der Sackgasse hinter ihm liegt das Parteibüro.

Der Aufschwung ist vorbei

Chaled und die anderen sind jeden Tag hier, beobachten, was in Hamra vor sich geht. Die SSNP-Mitglieder gelten als Handlanger Regimes von Assad, als Männer fürs Grobe. Chaled versucht nicht, dieses Image zu entkräften. Er beruft sich auf Ulrike Meinhof und sagt: „Manchmal muss man Gewalt anwenden, um den Frieden zu bewahren.“ Über seine Allianzen macht Assads Regime nach wie vor großen Einfluss geltend. Derzeit regiert eine prosyrische Koalition in Beirut, die von der schiitischen Hisbollah dominiert wird. Viele Libanesen fragen sich, was geschieht, wenn der Konflikt weiter eskaliert, ob dem Land eine neue Serie von Unruhen droht.

Doch auch Assads Verbündete halten sich zurück. Keine Seite hat derzeit Interesse daran, den Libanon ins Chaos zu stürzen. Bislang ist in Beirut alles ruhig, doch die Atmosphäre hat sich verändert. In den vergangenen Jahren erlebte der Libanon einen enormen Boom, den der Krieg nebenan nun gestoppt hat.

Ghassan Chairallah spürt längst, dass wieder schwere Zeiten angebrochen sind. Der blasse, grauhaarige Mann ist Manager bei der Firma Gargour, die Mercedes-Benz im Libanon vertritt. Ringsum fällt diesiges Licht über ein Gewerbegebiet nahe dem Hafen. Chairallah steht vor einem Glaswürfel, in dem S-Klasse-Modelle gleißen. Er führt in einen Sitzungssaal, faltet seine Hände und überlegt, wie er anfangen soll. „Normalerweise kommen jedes Jahr die Touristen vom Golf mit ihren Autos. Die brauchen natürlich Wartung und Service“, sagt er. Doch nun blieben die arabischen Urlauber und ihre Luxuslimousinen weg. „Letztlich hängt alles von der Stabilität in der Region ab“, fügt er hinzu. „Wir machen unsere Pläne und werden sehen, was passiert.“

Der Arabische Frühling bedeutet für den Libanon vor allem Unsicherheit. Spannungen und das Gefühl heraufziehenden Unheils haben das Land erfasst, keine Aufbruchsstimmung. Niemand hier demonstriert gegen die Regierung, abgesehen von einigen Zivilgesellschaftsaktivisten. Yalda, Kinda und Ghassan sitzen in einem Café einer Einkaufspassage und debattieren, wie sie auch in Beirut eine Protestbewegung in Gang bringen können. Als der Arabische Frühling begann, spürte sie fast so etwas wie Verzweiflung, sagt Yalda leise. „Ich habe mich gefragt, warum so etwas bei uns nicht möglich ist.“ Die drei Gründer der Gruppe Laïque Pride sind zwischen 20 und 30, mit kreativen Berufen und Zweitwohnsitz in Paris. Was sie fordern, ist ein Ende der religiösen Zensur, ein Zivilrecht, das für alle Religionen gilt, Gleichberechtigung für die Frau, kurz: einen säkularen Staat.

Immerhin herrschen im Libanon Presse- und Meinungsfreiheit. Dem ersten Protestmarsch von Laïque Pride schlossen sich 5.000 Leute an, dem zweiten noch knapp 1000. Sie wurden weder bedroht noch aufgehalten. „Man hat uns ausgelacht“, sagt Yalda: „Seht, die kleinen Intellektuellen, da laufen sie, wie süß.“ Sie senkt den Blick auf die Tischplatte. Ringsum stöckeln Frauen auf Stilettoschuhen mit ihren Einkaufstüten vorbei; der Kellner des Cafés lehnt neben der Espressomaschine und raucht. „Es ist ein Skandal, dass die Revolution in Syrien nur nach ihrer Bedeutung für den Libanon bewertet wird“, ruft Kinda, Ghassan seufzt. „Das ganze Land weigert sich, zur Kenntnis zu nehmen, was in Syrien passiert.“

Die Regierung in Beirut verfolgt eine „Politik der Dissoziation“, wie es in der Sprache der Behörden heißt. Das heißt: Sie hält sich aus dem Konflikt in Syrien heraus, um zu verhindern, dass er auf das Land übergreift. Doch der Libanon lässt sich nicht abschotten. Hilfsgüter und Waffen werden über die Grenze nach Syrien geschleust; Kämpfer schleichen auf Schmugglerpfaden hin und her. Mehr als 20.000 Flüchtlinge sind ins Land gekommen; dazu kommt ein steter Strom wohlhabender Syrer, die im Beiruter Nachtleben Ablenkung vom Krieg zu Hause suchen.

Omar und Ahmed sind bereits vor einigen Jahren gekommen, um an der renommierten American University Beirut zu studieren. Ahmeds Sportwagen rast durch die Nacht; sie sind auf dem Weg ins „Dictateur“, einen der angesagtesten Läden in Beirut. Sie suchen sich einen ruhigeren Platz in einer hinteren Ecke. Beide stammen aus der sunnitischen Oberschicht Syriens, Omar aus Damaskus, Ahmed aus Homs. Viele glauben, dass die syrische Wirtschaftselite das Regime stützt, um ihre Privilegien zu erhalten. Doch die Studenten schütteln die Köpfe: „Wir warten nur darauf, dass das Regime endlich fällt“, sagt Ahmed. Die reichen Händlerfamilien können sich dem Protest nicht offen anschließen. Wegen ihrer sozialen Stellung würde ihnen unerbittliche Verfolgung drohen. Also halten sie still, aus Furcht vor der Rache des Regimes. „Wir wissen, was für Leute das sind“, sagt Omar, „zu was die fähig sind.“ Ihre libanesischen Freunde verstünden ihr Problem nicht, berichtet Ahmed. „Sie sagen: Bei euch ist das Leben günstig, Strom gibt’s fast umsonst. Warum wollt ihr Veränderungen?“

Sie trinken ihre Cocktails aus und machen sich auf den Heimweg. Der Morgen dämmert bereits, Grüppchen von jungen Leuten taumeln auf die Straße. Sie ziehen, ohne den Blick zu wenden, vorbei an einer Mauer, auf die ein Schriftzug gesprüht ist, dort steht: „Revolution now“.