die taz vor 16 jahren: christian semler über regierung und opposition in ungarn und polen
:

Die Nachricht, wonach zwischen demokratischer Opposition und Regierung in Budapest ein „runder“ beziehungsweise „dreieckiger“ Tisch vereinbart worden ist, erinnert an die polnische Erfahrung. Der Reformprozeß bedarf gesellschaftlich legitimierter Verhandlungspartner, mithin eines konsolidierten Reformflügels in der regierenden Partei. Die Wahlen in Polen haben indes gezeigt, daß die Wähler nicht willens waren, den Reformern zu einer demokratischen Legitimation zu verhelfen.

 In seinem jüngsten Interview hat es der ungarische Reformpolitiker Imre Pozsgay ausdrücklich abgelehnt, für die Wahlen eine Quotenregelung nach polnischem Muster zu übernehmen. Im Gegensatz zu Polens Premier Rakowski, der sich weigert, „die Hypothese des Machtverlustes in Betracht zu ziehen“, räumt Pozsgay die Möglichkeit einer Wahlniederlage ein. Soviel Realitätssinn glaubt er sich leisten zu können, denn er kalkuliert, daß seine Partei für ein achtbares Wahlergebnis gut sein und Bündnispartner im nationalistisch-populistischen Lager finden wird.

 Für die demokratische Opposition in beiden Ländern wäre es ungefähr das schlimmste, wenn sie jetzt die Regierung übernehmen müßte. Ihr außenpolitischer Handlungsspielraum wäre begrenzt, sie sähe sich antidemokratischen Verwaltungs- und Sicherheitsapparaten gegenüber, und vor allem: sie wäre gezwungen, die volle Verantwortung für all die schmerzhaften Einschnitte in die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu übernehmen, die unweigerlich mit der weiteren Wirtschaftsreform verbunden sein werden.

 Die Alternative wäre konstruktive Opposition, Kontrolle und die Durchsetzung eines tiefgreifenden staatlichen und gesellschaftlichen Demokratisierungsprogramms. Das Bürgerkomitee Solidaność hat sich jetzt für diese Linie entschieden. Die Frage ist nur, ob eine erbitterte Bevölkerung ihr folgen wird. In Polen – wie in Ungarn.

Christian Semler, 12. 6. 1989