Erzählungsband „Belohnungssystem“: Neuverschaltet im Digitalozän
Jem Calder beschreibt das Liebes- und Lebensleiden der Digital Natives. In „Belohnungssystem“ blickt er kühl auf das, was junge Erwachsene antreibt.
Neurophysiologisch funktioniert eine Smartphone-Sucht genauso wie eine Drogensucht. Um mit der explodierenden Dopaminausschüttung klarzukommen, die die jeweilige Nutzung im Körper verursacht, muss das Gehirn sein Belohnungssystem umbauen und die Rezeptoren drastisch vermehren. Kommt es irgendwann zum Entzug, sterben all diese zusätzlichen Rezeptoren wieder ab: „Und wenn das passiert … na ja, dann würde man am liebsten selber sterben.“
So berichtet es der einst opiatabhängige Chefkoch Ellery, eine Figur in Jem Calders Erzählungsband „Belohnungssystem“, in dem der britische Autor einige (vor allem junge) Menschen dabei beobachtet, wie sie mit der Neuverschaltung ihrer Gehirne im digitalen Zeitalter zurechtkommen – oder auch nicht.
Und doch beginnt der erste und längste der sich lose zu einem Roman fügenden sechs Texte an einem der wenigen noch verbliebenen Orte, wo Smartphones verboten sind: in der von Ellery geleiteten „paneuropäischen“ Küche eines Nobelrestaurants (auch wenn der Küchenchef selbst sein Verbot gerne mal missachtet).
Zugleich fungiert die „erzwungene Intimität des extrem beengten, extrem temperierten Raums, in dem sie ihre körperlich extrem fordernden Jobs ausübten“, als exakter Gegensatz zur kalten, körperlos-vereinzelnden Sphäre der globalen digitalen Vernetzung, und Calder tut sein Bestes, uns diesen physischen Raum bis in die biochemischen Details der gehobenen Kulinarik plastisch werden zu lassen.
Pech in der Liebe – und bei der Arbeit
Dabei wird auch deutlich, welche anderen „Belohnungssysteme“ in der heutigen Welt nicht so ganz rund laufen: das der Lohnarbeit und das der Liebe. Hauptfigur Julia, die ihre alte Stelle als Hilfsköchin wegen des toxischen Arbeitsumfelds aufgegeben hat, gelingt mit dem Wechsel in Ellerys Lokal zwar der Aufstieg zur zweiten Küchenchefin.
Jem Calder: „Belohnungssystem“. Aus dem Englischen von Jan Schönherr. Claassen, Berlin 2023, 240 Seiten, 24 Euro
Und doch betrachtet sie ihre Arbeit nicht etwa als die Anwendung eigener Fähigkeiten, sondern als die Nachahmung der Fähigkeiten anderer, von der sie sich die bessere, „nächste Version ihrer selbst“ erhofft, die dann möglichst wenig mit ihrem „eigentlichen Wesen einer Heulsuse, Jasagerin und Sorgenkrämerin“ gemein haben soll.
Die Wirkweisen von Social Media bestimmen somit auch den handyfreien Raum, wobei Julia aufgrund ihrer Arbeitszeiten zudem kaum noch Gelegenheit hat, anderswo potenziellen Partnern zu begegnen – und sich daher in ihren doppelt so alten Chef verliebt: „nicht der Typ Mann, auf den Julia sonst stand – ja, vielleicht sogar eher der Typ Mann, dem sie sonst bewusst aus dem Weg gehen würde“.
So nehmen die Dinge ihren Lauf. Und Julias Anspruch, ihr „Selbstbild nicht von der Wahrnehmung der anderen verbiegen zu lassen“, steht auf wackligen Beinen, solange sie selbst nur vage Versionen von sich zu simulieren versucht.
Das Rettende nicht in Sicht
Kaum gewandter sind die Protagonisten der anderen Erzählungen. Julias Exfreund Nick, für den das Narrativ in die Ich-Perspektive wechselt, hat sich nach zwei Jahren noch immer nicht von der Trennung erholt. Seine schlecht bezahlte Arbeit als Werbetexter prokrastinierend, schafft er es weder, an seinen eigenen Texten zu schreiben, noch den Kontakt zu seinen alten Freunden zu halten. Und wenn er sie auf einer Party – die den Hauptinhalt seiner Erzählung bildet – endlich einmal wieder trifft, ist er sturzbesoffen. Schließlich zieht er mit 27 zurück zu seinen Eltern.
In einem weiteren längeren Text gegen Ende des Erzählungsbands erfahren wir, dass es auch den besser bezahlten Kollegen in Nicks Agentur wenig besser ergeht. Auch sie hängen noch im mittleren Alter hoffnungsvolleren Versionen ihrer selbst nach, ohne sich diesen in der trägen Endzeitstimmung ihres Bürodaseins auch nur annähern zu können.
Wo aber wächst das Rettende, wenn in der zunehmend durchalgorithmisierten Welt die Handlungsoptionen schwinden, weil ein Übermaß an Optionen es kaum noch zu echten Handlungen kommen lässt? In einem kurzen Text mit zwei namenlosen Protagonist:innen beleuchtet Calder in einer abstrahierenden, auf die technischen Details fokussierenden Sprache die Mechanismen der Beziehungsanbahnung und -verhinderung einer „algorithmusbasierten Dating-App“.
Wenn auch die letzte, während des Corona-Lockdowns angesiedelte Episode die Technologie etwas mehr zu dem beziehungsstützenden Hilfsmittel werden lässt, das sie sein sollte: Eigene Entscheidungen zu treffen – ebenso wie das Handy zu ignorieren – bleibt kompliziert.
Eine gewisse Deutungsarmut
Natürlich ist Jem Calder nicht der Erste, der die Liebes- und Lebensleiden der Digital Natives beschreibt (so wird sein Buch etwa mit einem Lob der Kollegin Sally Rooney beworben). Doch seine Darstellung ist zugleich formal vielstimmiger wie diagnostisch einseitiger – und dadurch perspektivisch düsterer.
Während Rooney in ihren Texten zunehmend auch theoretische Ansätze entwickelt, mittels derer Figuren wie Leser sich reflexiv emanzipieren können, steht Calders beeindruckender menschlicher wie technischer Beobachtungsgabe (inklusive humoristischem und szenischem Talent) eine gewisse Deutungsarmut gegenüber – die freilich auch programmatisch verstanden werden kann.
Den kühl-observierenden Stil hat Jan Schönherr insgesamt gut ins Deutsche gebracht, wenn auch nicht jeder der im Englischen funktionierenden technologieoffenen Neologismen überzeugen kann.
Verrät die nüchterne Aussicht von „Belohnungssystem“ womöglich die existenzielle Betroffenheit des äußerst begabten Debüt-Autors, darf man auf sein weiteres Sich-Freischreiben mindestens ebenso gespannt sein.
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