Weniger Bürger – weniger Staat?

JA
Der Staat kann die Gleichheit der Lebensverhältnisse nicht mehr garantieren. Er muss mit seinen Leistungen auch seinen Anspruch herunterfahren und den Menschen in wenig besiedelten Gebieten den Freiraum geben, unabhängig von staatlichen Zwängen ihre Infrastruktur selbst zu gestalten.

Die Garantieleistungen des Staates für seine Bürger sind in Deutschland sehr umfassend. Grundgesetz und Länderverfassungen gewähren die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, jeder oder jede soll die gleichen Zugänge zum gesellschaftlichen Leben bekommen, egal ob auf dem Lande oder in der Stadt. Der Staat hat dafür bisher mit aller Gründlichkeit Sorge getragen: Kaum ein Land verfügt über ein dichteres Netz an Straßen und Schienen. Die Versorgung mit Gesundheitsdiensten, mit Telekommunikation, Post und Schulen, mit Strom und Wasser ist garantiert. Die Inanspruchnahme der Dienste ist allerdings auch obligatorisch; Versorgungsnetze können nur dann die gewünschte Qualität bieten, wenn wirklich auch jeder mitmacht.

Doch der staatlich gewährten Garantien lassen sich – dank demografischen Wandels und wirtschaftsstruktureller Verschiebungen – bereits jetzt nicht mehr in der gewohnten Qualität aufrecht erhalten. In Brandenburg werden Städte wie Potsdam oder Regionen wie das Havelland bis 2020 zwar wachsen, dafür erleben Städte wie Frankfurt (Oder) oder Cottbus einen Rückgang ihrer Einwohner um ein Drittel. Andere Regionen wie die Prignitz oder die Uckermark werden noch mehr Bewohner verlieren.

Auf diese Entwicklung ist das organisierte Gemeinwesen in Deutschland überhaupt nicht vorbereitet. Der Staat kann sein Leistungsprogramm nicht mehr aufrecht erhalten. Eigenheimzulage, Pendlerpauschale und die Regionalisierungsmittel, die für den Aufbau der regionalen Schienenverkehrs verwendet werden, stehen genauso auf der Streichliste wie die enormen Zuschüsse für den Nahverkehr. Bei einem Rückgang der Schülerzahlen in den nächsten beiden Jahrzehnten um die Hälfte, sieht sich beispielsweise das Land Sachsen zur völligen Neudefinition schulischer Angebote gezwungen.

Einzelnen kommunalen Wasserversorger in Sachsen-Anhalt stellt sich bei einem Verlust an Einwohnern um mehr als die Hälfte praktisch komplett die Sinnfrage, weil ein so aufwendiges Versorgungsnetz nur unter permanenter Last sinnvoll zu betreiben ist.

Bund, Länder und Gemeinden haben damit gleichermaßen das Problem: Den leistungsstarken, flächendeckenden, voll versorgenden Staat wird es nicht mehr geben können. Was ist daher zu tun? Zunächst muss der Anspruch zurückgefahren und den Möglichkeiten angepasst werden: Es kann zukünftig keine Garantie mehr auf gleichwertige Lebensverhältnisse geben. Man soll sich gar nicht erst mit Interpretationen herumschlagen, was denn wohl gleichwertig bedeuten könnte. Der daseinsvorsorgende Staat war ein leistungsstarker, er war aber auch immer ein autoritärer!

Der Übergang zum Gewährleistungsstaat, so wie er aktuell diskutiert wird, formuliert die zeitgemäße Verschiebung: Der Staat vermindert den Anspruch, den seine Bürger an seine Leistungskraft stellen dürfen. Er muss aber auch Teile seiner allumfassenden Definitionsmacht zurückgeben. Das heißt: Wenn er keine flächendeckende Vollversorgung mehr garantieren kann, muss auch der Anschlusszwang aufgehoben werden!

Wenn es in schwach besiedelten Regionen keine Wasserversorgung, keine Schulen und auch kein sinnvolles Angebot mehr Busse und Bahnen geben kann, dann können sich die Versorgungsnetze eigenverantwortlich organisieren.

Das Energiewirtschaftsgesetz, das Personenbeförderungsgesetz, die Post- und Schulgesetze müssen vom diktierenden Staatsanspruch befreit werden und den Menschen vor Ort erlauben, selbst bestimmte und selbst definierte Angebote zu entwickeln. Zukünftig sollen die Bewohner vor Ort entscheiden können, ob sie Busse fahren lassen wollen, und wenn ja, ob diese nach Fahrplänen operieren oder nur gelegentlich auf Anforderung verkehren. Analog kann bei Entscheidungen der Energie- und Wasserversorgung sowie bei anderen Infrastrukturdiensten verfahren werden. Vor Ort bestimmen die Nachfrager das Angebot selbst und legen auch die Qualitätskriterien fest. Dies geschieht alles auf der Basis einer allgemeinen Rechtsordnung, aber befreit von staatlicher Vorherrschaft.

Fotohinweis: ANDREAS KNIE, Jahrgang 1960, ist Verkehrswissenschaftler und Mitarbeiter der Abteilung „Innovation und Organisation“ am Wissenschaftszentrum Berlin. Zurzeit leitet er unter anderem das Projekt „DB Rent“ der Deutschen Bahn, in dem Verkehrssysteme – etwa Bahn, Auto, Fahrrad – vernetzt werden sollen.

NEIN
Eine schrumpfende Bevölkerung stellt neue Anforderungen an den Staat, nicht weniger. Der Staat schrumpft nicht allein deswegen, weil die Bevölkerungszahlen zurückgehen und die Altersstruktur sich verändert. Aber er wird seine Verwaltung anpassen.

Die Aufgabenvielfalt des Staates ist nicht abhängig von der Bevölkerungsanzahl. Vielmehr sind die Aufgaben – insbesondere im sozialen Bereich – Ausdruck der sich differenzierenden Gesellschaft. Der „Staat“ als Sammelbegriff für alle Ebenen ist keineswegs ein so starres und inflexibles Gebilde, wie es gemeinhin angenommen wird.

Die Anzahl der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst, insbesondere in Gemeinden und Landkreisen, ist seit Jahren rückläufig – der Staat schrumpft schon jetzt. Der demografische Wandel wird das Dienstleistungsangebot des Staates verändern – vorrangig in Bezug auf Leistungen für ältere Menschen, Mobilität und Barrierefreiheit. Vor allem aber ist zu erwarten, dass die Grenzen zwischen „staatlichen“ und „privaten“ Dienstleistungen weiter verwischen werden. Das Dienstleistungsangebot des „Staates“ hat sich in der Vergangenheit nicht nur einfach schlicht erweitert, sondern schon immer verändert. Die Veränderungen durch den demographischen Wandel erzwingen eine schnellere Anpassung der Dienstleistungen – Aufgabenkritik („Machen wir die richtigen Aufgaben? Machen wir die Aufgaben richtig?“), individualisierte Leistungen für Problemlagen einzelner Bürger, und eine Änderung der Produktionsform öffentlicher Dienstleistungen.

Diejenigen Gemeinden und Kreise, die besonders stark von Bevölkerungsrückgang betroffen sind, weisen meist auch eine starke Abwanderung Jüngerer auf. Der Staat benötigt neue Formen der Arbeitsorganisation, um in der Fläche präsent zu bleiben und den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen den Bedürfnissen der veränderten Bevölkerungsstruktur Rechnung zu tragen. Das ist über kleine Bürgerbüros vor Ort möglich. Schwierigere Anfragen gehen dann von dort an zentralisierte, mehrere Gemeinden und Landkreise bedienende Fachdienste. In vielen Gebieten Deutschlands wird dabei die interkommunale Kooperation nicht mehr ausreichen, sondern nach regionalen Lösungen verlangen, auch über Landkreisgrenzen hinweg.

Letztlich wird damit das institutionelle Gefüge von Bund, Land, Landkreis und Gemeinde eher in Frage gestellt als die darin produzierten Dienstleistungen für die Bürger.

Der demografische Wandel – Bevölkerungsrückgang und Veränderungen in der Altersstruktur – ist nicht in allen Regionen gleich, sondern extrem unterschiedlich. Ballungsgebiete werden vom demografischen Wandel weit weniger betroffen sein, als ohnehin strukturschwache ländliche Regionen.

Die Herausforderung für strukturschwache Regionen ist nicht nur, die Dienstleistungen auf die veränderte Nachfrage umzustellen, sondern darüber hinaus auch für die Erwerbsbevölkerung attraktiv zu bleiben: Mehr Leistungen für Kinder und mehr Leistungen für Senioren in der Region.

Wird an der Idee einer Verwaltung pro Gemeinde festgehalten, so ist wegen des Bevölkerungsrückgangs eine Entdemokratisierung auf der lokalen Ebene zu erwarten: Wenn eine Gemeinde immer weniger Menschen beheimatet, steigt die Gefahr des Verlustes der Unabhängigkeit durch Gebietsreformen, um wieder eine leistungsfähige und finanzierbare Verwaltung zu schaffen. Die Wege zur Verwaltung und den gewählten Vertretern werden immer weiter. Der Staat muss nicht auf allen Ebenen Schritt halten mit der schrumpfenden Bevölkerung, sondern er muss – vor allem die Gemeinden und Landkreise – nach neuen Wegen effizienter Arbeitsorganisation suchen, die zum einen zugänglicher und angepasster sind für ältere Menschen, zum anderen die lokale Demokratie vor Ort stützen, statt aufzulösen. Und schließlich müssten Kommunen nicht nur reaktiv auf die veränderte Altersstruktur reagieren, indem etwa immer mehr Schulen geschlossen werden, sondern aktiv gerade deswegen die Kinder- und Familienpolitik in den Mittelpunkt stellen.

Letztlich wird auch hier das institutionelle Gefüge von Bund, Ländern und Gemeinden neu zu formieren sein. Damit verbunden ist eine den regionalen Bedürfnissen angepasste lokale Regulierung öffentlicher Dienstleistungen statt pauschaler Regulierung auf nationalstaatlicher Ebene.

Eine „Entbürokratisierung durch Entvölkerung“ zu erwarten, ist naiv. Der Staat mag kleiner werden, aber dadurch nicht besser.

Fotohinweis: Dr. ALEXANDER WEGENER, Jahrgang 1967, Gründer von „interpublic berlin“, arbeitet seit 1992 zu Themen der Modernisierung des öffentlichen Sektors in OECD-Ländern und Entwicklungsländern. 1994–2001 Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin, Fellow am Kommunalwissenschaftlichen Institut der Uni Potsdam.