Die Wahrheit: Grauenhafter Graupenschauer
Wirtschaftskrise und Wiederaufrüstung: Die schleimige Grütze kehrt mit Macht nicht nur in die Niederungen der Hochküche zurück.
Es ist ein aufregender Trend, doch vielen stehen darob die Haare auf den Zähnen zu Berge: Zeitgleich mit dem Aufstieg der rechtsextremen AfD werden derzeit alte, traditionelle Nahrungsmittel regionaler Herkunft wiederentdeckt. Die populärsten Beispiele für diese Retrowelle sind Steckrüben, Mangold, Pastinaken und der Vanillejoghurt vom letzten Jahr hinten im Kühlschrank.
Erstaunlicherweise indes steht auch eine Zutat vor dem monumentalen Comeback, die die Nachkriegsgenerationen sich stets vor Entsetzen schütteln ließ: die Gersten- oder Weizengrütze, die unter dem Deck- und Schrecknamen Graupen über viele Dekaden hinweg verachtet, gehasst und gefürchtet worden ist.
Das schleimige Getreideprodukt versalzte in den vierziger und fünfziger Jahren so manchem hungrigen Altnazi, so manchem Kellerkind und so mancher Trümmerfrau ordentlich die dünne Suppe, musste aber des Nährwerts wegen in jenen bitteren Zeiten nach der bedingungslosen Kapitulation als Kalorienlieferant hingenommen werden.
Sobald sich die Lebensmittelversorgung im Rahmen von Nato-Beitritt und Westbindung normalisiert hatte und Spaghetti von cleveren Italienern als neuer Kohlenhydratträger erfunden worden waren, verschwand die Graupe für einige Jahrzehnte im Komposteimer der Geschichte – nur um jetzt überraschend wiederaufzutauchen.
Der merkwürdige Trend schlägt gehörige Wellen. Nachdem junge, kesse Influencerinnen wie MoonLXT und Therhesha Kay ihrer aktuellen Graupensucht Ausdruck verliehen haben, verbreiten sich Graupendiäten gerade unter anorektischen Teenies rasant. Infolgedessen ist das Nährmittel vielerorts ausverkauft, die großen Graupenhändler in Singapur und Rotterdam haben einen Lieferstopp für den Einzelhandel verhängt.
Graupe an lackierter Languste nebst Granulat
Vor allem in der Welt der Feinschmecker aber werden die derzeitigen Preissprünge mit Begeisterung beobachtet: Auch die meisten internationalen Starköche haben bereits ein extravagantes Graupenrezept in ihre Menüs integriert.
Alain Ducasse kombiniert Graupe mit lackierter Languste und Kaisergranat-Granulat, Heston Blumenthal mit gegrillten Radieschen und gedörrtem Parmesan, Joachim Wissler serviert sie auf düpierter Makrele unter venezolanischem Kernöl, René Redzepi überbackt mit Speck und doppelt Käse und packt zusätzlich geschredderte Gummibärchen an die Seite. Und die Epigonen von Paul Bocuse (†) experimentieren gerade im gleichnamigen Restaurant mit einem Sack Originalgraupen aus dessen Lehrzeit Mitte des vorigen Jahrhunderts. Ziel: eine anständige Graupensuppe „Comme chez maman“ mit vertrocknetem Baguette und Billigknoblauchmayonnaise.
Tatsächlich eignen sich Graupen für ein weites Spektrum von Einsatzbereichen. Man kann mit ihnen beliebige Suppen, Saucen, Pastagerichte, Gemüsepfannen, Vorspeisen oder Desserts versauen. Ein unangenehmes Mundgefühl erzeugen sie auch auf Pizza, Pommes, Cheesburgern und Currywürsten. Ihre (wenigen) Vorzüge entfalten sich jedoch am besten im Zusammenhang mit Speisen, die ihren ganz eigenen Hautgout mitbringen, zum Beispiel Hammel, Nieren, Leber oder Stinkfrucht. Aber auch besonders Schleimiges lässt sich mit Graupen gut ergänzen, etwa Okraschoten oder Schnecken.
Zum Nachtisch Pilze und Beeren in den Wäldern
Richtig überraschend ist die Wiederkehr der glitschigen Beilage allerdings nicht. Schließlich werden die Zeiten gerade knüppelhart und zusehends elender. Breite Bevölkerungsschichten verarmen, die steigende Preise tun das ihre, um den Verarmten den Appetit zu verderben. Die Menschen futtern nur noch das Billigste aus Mehl und Fett, also TK-Pizza, und suchen zum Nachtisch Pilze und Beeren in den Wäldern.
Allerorten wird sich auf die nächsten Kriegs- und Nachkriegszeiten vorbereitet – mit ihrem hohen Bedarf an billigen, schleimigen Nahrungsmitteln, die es den arbeitenden Schichten in der Rüstungsindustrie und an der Front ermöglichen sollen, ganz knapp am Verhungern vorbeizuschlittern.
Unterstützt von Cem Özdemirs Landwirtschaftsministerium rollt die deutsche Graupenindustrie deshalb gerade eine gewaltige Kampagne aus, mit der der Graupenverzehr wieder im Alltag der Menschen verankert werden soll. „Essen muss nicht immer schmecken, sondern kurzzeitig satt machen und einen gewissen Event- oder Funfaktor aufweisen, jedenfalls für die, die dafür werben“, grinst zum Beispiel Hieronymus Schlatt von der Agentur Zahlemann & Söhne in Neu-Isenburg, die damit beauftragt ist. „Und für alle Genießer, die auf unbestimmt toxische Art und Weise immer so positiv sind, ist es halt mal was anderes, ihr Arschlöcher!“
Graupeliger TV-Philosoph
Auch Fernsehphilosoph Caspar David Specht empfiehlt Graupenverzehr als steinigen Weg der Kontemplation, als „traurigen Weg zu mir selbst“, und widmete dem slicken Nährmittel kürzlich eine halbe Stunde auf der Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung gegen die totalitären Auswüchse der politischen Korrektheit in Dresden. Küchenprofis fügen allerdings noch einen anderen Aspekt hinzu.
„Es geht um eine generelle Rehabilitation des Schleimigen“, sagt etwa Philipp Kammdorf, Küchenchef der Osnabrücker Zentralmensa und Landtagskandidat der niedersächsischen AfD. „Nicht nur um eine bewahrenswerte Traditionsküchenzutat zurück auf den Tisch zu bringen, die uns viel über unsere deutsche Geschichte, unseren Sonderweg und uns selber zu erzählen hat, sondern vor allem auch aus Kostengründen!“
Der Chefkoch sieht Deutschland auf dem begrüßenswerten Weg zur durchgehenden Militarisierung, die es der Nation ermöglicht, in den kommenden Weltkriegen eine bessere Figur abzugeben als in den letzten, auch was die Feldküche betrifft. Mit der Reintegration der Graupen in die deutsche Mensaverpflegung und Speiselandschaft ist es für Kammdorf darob noch nicht getan. Sein Fernziel: die Rehabilitation von Knorpel und Wabbel im Alltag. Der Grund: „Wer mit ganz spitzen Zähnen isst, hat einfach länger was zu kauen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden