: Die Möglichmacherin
Die Devise der Lehrerin heißt: „Du schaffst es“. Egal ob die Schüler spastisch gelähmt sind oder epileptische Anfälle bekommen. Doch auch Neumann stößt an Grenzen
■ Sonderweg: Deutschland geht im internationalen Vergleich einen fragwürdigen Weg. Während in Ländern wie Norwegen oder Schweden nur etwa 1 Prozent aller Schüler in Sonderschulen unterrichtet werden, sind es in Deutschland mehr als 5 Prozent – das sind über 400.000 Schüler.
■ Gegenwart: Auch wenn sich viele Sonderpädagogen für ihre behinderten Schüler aufopfern, die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind für Förderschüler gering. Nur 0,2 Prozent schaffen das Abitur, 2,2 Prozent einen Mittleren Abschluss und 20 Prozent einen Hauptschulabschluss.
■ Zukunft: Seit März dieses Jahres gilt auch in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention, die das deutsche Schulwesen umkrempeln könnte. Sie garantiert allen Schülern mit Behinderung das Recht, in normalen Schulen zu lernen. Bisher werden nur gut 16 Prozent der behinderten Schüler in die Regelschule integriert – im europäischen Ausland sind es rund 80 Prozent.
VON JOHANNES GERNERT
Es klappt immer wieder, auch wenn es anfangs oft nicht so aussieht. Sie hatte mal diesen Schüler, der an Muskeldystrophie litt. Die Krankheit ist nicht aufzuhalten. Der Körper wird langsam immer schwächer. Elgin Neumann hat beim Arbeitsamt angerufen und gesagt: Ich hätte da jemanden, der kennt sich aus mit Rechnern. Die haben sich dort aber nicht weiter gekümmert. Zu der Zeit unterrichtete an ihrer Schule ein Kollege. „Och so ’n Computerfreak“, sagt Neumann. Der kannte jemanden in einer Firma, wo sie vielleicht einen gebrauchen konnten. Seitdem arbeitet dieser Schüler dort in der Datenverarbeitung. Anfangs hatten sie ihm in einem extra Container ein Büro eingerichtet, damit es mit dem Rollstuhl keine Schwierigkeiten gab. Mittlerweile hat er ein eigenes Zimmer. Er ist jetzt über dreißig. Er kommt mit Sauerstoffmaske, vier Stunden die Woche. Es ist nicht klar, wie lange noch. Aber er kommt gerne.
Elgin Neumann sagt, früher oder später finden sie eigentlich für fast jeden was. Es gibt viele Wege. Neumann kennt die meisten. Sie ist seit über zwanzig Jahren an der Biesalski-Schule im bürgerlichen Berliner Westen. Und einen Großteil der Zeit hat sie damit verbracht, junge Leute nach draußen ins Berufsleben zu lotsen. Es sind Jugendliche, die spastische Lähmungen haben, im Rollstuhl sitzen oder Dinge anders wahrnehmen als die meisten ihrer Alterskollegen. Früher hat Elgin Neumann an einer Schule für Körperbehinderte gearbeitet. Heute arbeitet sie an einer mit dem „Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung“. Die Terminologie hat sich geändert und ihre Klientel, aber das, was sie tut, eigentlich kaum. In ihrem kleinen Büro mit den Ikea-Ablagen auf dem Tisch und den Eulenbildern an der Wand laufen die Drähte nach draußen zusammen. Die Frau von der Arbeitsagentur ruft regelmäßig an, die Eltern, Ehemalige. Neumann klingt dabei meist sehr fröhlich. Als hätte sie auf genau diesen Anruf gerade in dem Augenblick gewartet. In den Regalen stapeln sich Broschüren von Förderprogrammen, Ausbildungswerkstätten und Berufsbildungszentren.
Blau, gelb oder rot?
Sie ist 60 Jahre alt, hat kurze graue Haare und trägt eine weiße Bluse. Aus den unterschiedlichen Pfaden, die früher oder später aus der Biesalski-Schule herausführen, hat sie eine Grafik gemacht. Ganz links ein blauer Kasten: der erste Arbeitsmarkt. Ganz rechts ein gelber: die Werkstätten. Dazwischen viele rote. Maßnahmen, Spezialausbildungen, die das Arbeitsamt fördert. Über dem Ganzen steht etwas von „Möglichkeiten“.
So sieht Elgin Neumann das. Es ist vieles möglich. Gerade wenn sich Lehrer einsetzen und sagen: „Oh, das wäre doch jammerschade, wenn der in einer Werkstatt verschwindet.“ An der Biesalski-Schule fangen sie relativ früh damit an, aufs Berufsleben vorzubereiten. Mit Projektwochen, Schnuppertagen, Praktika. Die 10c hat an diesem Freitag in der dritten und vierten Stunde Arbeitslehre. Es geht um den Welthandel. Darum, wie Güter zwischen Afrika, Amerika und Europa hin und her bewegt werden. An der Wand hängen Plakate, die über Drogen aufklären. Hinten in der Ecke stehen abgewetzte Sessel. Der einzige Rollstuhlfahrer in der Klasse ist heute krank. Die anderen hatten vorher Sport. Sie haben mit Bällen gespielt und sind 100 Meter gerannt. Die meisten haben körperliche Schwierigkeiten, die man auf den ersten Blick gar nicht sieht.
Sie erkennen Konturen nicht, hören schwer, ihre Organe sind geschädigt. Es hat sich einiges geändert, seit Elgin Neumann Anfang der 80er an die Schule kam. Muskeldystrophie kommt deutlich seltener vor, weil man weiß, dass Gene dafür verantwortlich sind. Die Gebrechen sind unscheinbarer geworden. Oft fallen sie den Eltern erst auf, wenn die Kinder eingeschult werden.
In der 10c versuchen die meisten einen Hauptschulabschluss zu machen. Manche schaffen vielleicht auch den Mittleren Schulabschluss.
Endstation Werkstatt
Sie haben neulich an einem Existenzgründerwettbewerb teilgenommen und Business-Pläne entworfen. Für eine Tuning-Werkstatt, einen Erlebnispark auf einem ehemaligen Flughafen und für ein Kosmetikstudio. Leute von der Bank haben ihnen dann erklärt, welche Projekte vielleicht echte Chancen hätten. Sie haben Betriebe besucht, hatten Informationstage bei Siemens, waren in einem Assessment-Center bei einer Versicherung und haben bei Ver.di einen Einstellungstest gemacht. In einem Regal im Klassenzimmer lagern ihre persönlichen Ordner. Darin sind ihre Erfahrungen abgeheftet. Zeugnisse, Praktikumsberichte. Die Berater bei der Arbeitsagentur wissen dann sofort Bescheid.
Die Abschlüsse stellen die Weichen, sagt Elgin Neumann. Einer ist einmal auf dem Gymnasium gelandet und hat dort das zweitbeste Abitur gemacht. Er will jetzt alles so organisieren, dass er im Rollstuhl auch studieren kann. Ein anderer erklärt seinen Mitschülern und Lehrern oft, wie sie die Computer wieder zum Laufen kriegen. So gut wie er kennt sich sonst niemand damit aus. Aber seine Finger können keine Tastatur bedienen. Er braucht immer jemanden, der ihm hilft und seine Gedanken an den Rechner weitergibt. Deshalb wird er wahrscheinlich in eine Werkstatt kommen. Manchmal sagt er, dass er sich abgeschoben fühlt.
Einige werden den eckigen Biesalski-Bau auch nach ihrem Abschluss nicht verlassen. Es gibt hier 11. und 12. Klassen, in denen Lehrgänge angeboten werden, die für einen Beruf qualifizieren. BQL nennen sich die oder BQLFL – wenn die Schüler den Hauptschulabschluss nicht geschafft haben und beim Lernen unterstützt werden müssen. Die Pfeile auf Elgin Neumanns Übersichtsplan werden sie wahrscheinlich in Richtung Werkstätten führen – oder zu Jobs, die von der Arbeitsagentur gefördert werden. In den Lehrgängen kochen sie, stellen Rechnungen oder arbeiten im Garten. In dieser Pause verkaufen einige Schüler im Flur Topfpflanzen. Vor einem Holztisch stehen Basilikum, Tomaten und Kräuter.
Elgin Neumann glaubt, dass es am besten ist, wenn die jungen Leute ihre Erfahrungen selbst machen. Einer wollte einmal Krankengymnast werden. Er war spastisch gelähmt, brauchte Krücken und manchmal auch einen Rollstuhl. Sie vermittelte ihm ein Praktikum bei einem Physiotherapeuten. Sie dachte, er würde dann merken, dass er bestimmte Dinge nicht konnte. Er hat dort mit seinem Rollator Fangopackungen von einem Raum in den anderen gefahren, und als das Praktikum zu Ende war, wollte er immer noch Krankengymnast werden. Da musste sie ihm sagen, dass das nicht geht, dass man mit gelähmten Händen nicht massieren könne. Er wollte es trotzdem nicht einsehen. Und sie ist immer deutlicher geworden, hat irgendwann nur noch von Einschränkungen gesprochen. Nicht mehr von Möglichkeiten. Manchmal muss sie Träume auch zerstören.
Es ist dann besonders schwierig, wenn die Eltern ihren Kindern weiterhin versichern: „Du kannst das.“ Im Grunde, sagt Neumann, sei das auch ihre Devise, aber wenn ein Vater seinem Sohn sagt, er solle in der Bewerbung nicht erwähnen, dass er im Rollstuhl sitzt, dann setzt sie ihm sehr energisch auseinander, dass sie das für äußerst töricht hält. Es ist auch eine rechtliche Frage. Wenn in dem Schreiben nichts von einer Behinderung steht, kommt zum Bewerbungsgespräch kein Schwerbehindertenvertreter.
Eigentlich ist Elgin Neumann einmal Gymnasiallehrerin an einer amerikanischen Schule gewesen. Als ihr Vertrag dort auslief, hat sie ein Praktikum an einer Schule für Körperbehinderte gemacht, so hieß das damals noch. Sie hat nach und nach erfahren, was es bedeutet, im E-Rollstuhl zu sitzen. Dass man größere Räume braucht, andere Toiletten, Leute, die anpacken. Sie fing an, sich zu fragen: „Wie ist das, wenn ein Schüler so viele Wünsche hat, und die kann man nicht erfüllen?“ Manchmal presst sie ihre Hände an den Hals und schaut eine Weile still vor sich hin. „Wenn ich jetzt mal meine Hauptschüler durchgehe“, sagt sie. „Eigentlich haben die alle ihren Weg gemacht.“ Natürlich, es kommt auch vor, dass ein Abgänger nach ein paar Jahren anruft, weil er einen neuen Job sucht, und sie muss dann sagen: „Ich hab nichts.“
Ach, die Eltern
Man muss sich genau ansehen, was die Einzelnen können, findet Elgin Neumann, was sie interessiert – und was sie wollen. „Ich mache mir mein Bild, bei mir kommt sehr viel auf den Eindruck an. Ich beobachte halt viel.“
Am Mittag läuft sie durch den Schulgarten. Die Sonne scheint. Ein Mädchen klopft mit einem umgekehrten Beil einen Pflock in den Boden. Sie wird bald in ein westliches Bundesland gehen, um dort Tierpflegerin zu werden. Wieder so ein Fall, wo es geklappt hat. Der Gartenbaulehrer steht neben den Beeten und blinzelt ins helle Licht. Neumann erkundigt sich nach einem neuen Schüler. Gefällt es dem? Die Eltern sagen: ja, erzählt der Kollege. „Ja, die Eltern“, ruft Neumann. „Die Eltern sagen, im Himmel ist Jahrmarkt.“ Sie macht das Gartentor zu. Sie wird mal mit ihm reden.
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