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crime sceneDas Geheimnis des einsam Gestorbenen

Ein alter Mann stirbt – anscheinend, ohne Angehörige zu hinterlassen. An sich nichts Ungewöhnliches, doch dann kommt heraus, dass ins Futter seines Beerdigungsanzugs 50.000 Pfund eingenäht sein sollen. Woher stammt das Geld? Und was damit tun? Gibt es vielleicht doch irgendwo Erben?

An dieser Stelle kommt Solomon Farthing ins Spiel, denn Solomon ist unter anderem Erben­ermittler. Er schlägt sich sonst mit so allerlei durchs Leben und hatte auch schon Ärger mit der Polizei; aber seine detektivische Detailarbeit an den Hinterlassenschaften einsam Gestorbener wissen selbst die GesetzeshüterInnen zu schätzen. Und für ihn selbst springt häufig eine nette Provision heraus.

Dieser Fall aber ist anders als andere, denn Solomon entdeckt, dass es eine Verbindung zwischen dem Toten und seinem eigenen Großvater geben muss. Godfrey Farthing, vor mehr als vierzig Jahren verstorben, hatte in Edinburgh ein Pfandleihgeschäft betrieben, und obwohl Solomon bei ihm aufgewachsen ist, muss er jetzt feststellen, dass andere Menschen viel mehr über seinen Großvater zu wissen scheinen als er selbst …

Die schottische Autorin Mary Paulson-Ellis schreibt auf ihrer Website über sich selbst, dass sie mit ihrem historisch-kriminalistisch orientierten Schreiben ein bestimmtes Ziel verfolge: „to explore the world of those who die with no next of kin.“ In diesem Sinne hat sie bisher drei Romane als thematisch lose zusammenhängende Reihe veröffentlicht, dieser ist der zweite. Alle spielen in Edinburgh. Die wichtigste Handlungsebene von „Das Erbe von Solomon Farthing“ allerdings befindet sich an einem anderen Ort und in einer ganz anderen Zeit.

Denn Godfrey Farthing war als junger Mann Offizier im Ersten Weltkrieg. Und während sein alternder Enkel allmählich die ­verwischten Spuren dieser Vergangenheit zu entziffern lernt, erzählt der Roman zwischendrin von der seltsamen und schrecklichen Zeit hundert Jahre zuvor: von einem verlorenen Trüppchen britischer Soldaten, das sich irgendwo auf dem Kontinent in einem verlassenen ­Bauernhof provisorisch eingerichtet hat, auf einen Marschbefehl oder das Kriegsende wartet und sich derweil die Zeit mit Glücksspiel vertreibt.

Dieses Kartenspiel ist gleichsam eine Schicksalsmetapher für das große Glücksspiel des Lebens und Sterbens an sich. An den ganz kleinen Dingen, die dabei zu Wetteinsätzen werden, entzünden sich in diesem Roman ganz große Dramen. Eine Rolle Garn, ein winziger Seifenschnitz oder gar ein Pfandschein sind Kostbarkeiten. Einem Mützenabzeichen, das der heißblütige junge Unteroffizier nur scheinbar als Wetteinsatz anbietet, kommt besondere metaphorische Bedeutung zu; und so wird es zum Ausgangspunkt einer schicksalhaften Konfrontation.

Manche dieser oder ganz ähnliche Dinge tauchen auch in jener späteren, heutigen Handlungsebene auf, in der Solomon Far­thing seine Spurensuche betreibt. Und nicht immer ist Solomon die Bedeutung dessen, was er sieht, bewusst. Das ist nur konsequent, denn generell lässt die Erzählung viele Lücken, die jeder und jede nach Belieben füllen mag. Wie um zu zeigen: Vollständig rekonstruieren können wir die Vergangenheit ohnehin nicht; wir können nur die erhaltenen Bruchstücke so zusammensetzen, dass sie ein möglichst kohärentes Bild ergeben.

Mary Paulson-Ellis: „Das Erbe von Solomon Farthing“. Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt. Ariadne (Argument Verlag), Hamburg 2023. 480 Seiten, 25 Euro

Es ist eine Art literarische Forensik, die Mary Paulson-Ellis in ihren Romanen exemplarisch und eindrucksvoll vorführt. Sie zeigt uns die Bruchstücke. Der Rest ist Sache der Vorstellungskraft. Katharina Granzin

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