27383 Hurricane

Der jährliche Ausnahmezustand von Scheeßel: Das dortige Open-Air hat dreimal so viele Besucher wie der Ort Einwohner

Zwei plaudernde Polizistinnen auf Pferden scheuchen gebeugt schleichende Kopftuchträgerinnen vor sich her, die Pfandgut und Müll sammeln. Währenddessen wischen sich die letzten Hurricane-Camper Schlaf und Schminke aus den roten Augen: Montagmorgen 11 Uhr. Gestern ging das neunte Hurricane-Festival in Scheeßel zu Ende. Rund 12.000 Einwohner hat der Ort bei Rotenburg an der Wümme, 60.000 Karten wurden vorab verkauft – auch bei e-Bay ist das Riesenfestival ein fester Begriff. Es hinterließ nach Hause wankende Besucher, zufriedene Veranstalter und eine monokulturelle Trümmerwüste, übersät von Zeltruinen und Glasflaschen. Moment mal, Glasflaschen?

Die sind seit diesem Jahr auf dem gesamten Gelände verboten. Zum Verdruss jener, die sich zehn Kisten Hemelinger mitgenommen hatten. Schon vor Beginn des Open-Airs konfiszieren die Sicherheitsleute unzählige Bierkästen. Dem Glas ein Ende, so die Weisung an die Sicherheitsdienste. Grund: Schnittverletzungsgefahr. Viel Alkohol ist superschlau im Schlafsack verpackt. Pech: Er wird trotzdem gefunden. Was passiert mit dem Bier? „Kommt weg, wir dürfen nicht trinken“, meint einer. Einer von 600, die aus ganz Deutschland und vielen Security-Firmen rekrutiert wurden. Sie überstellten Rabauken der Polizei, sicherten Zäune, waren freundlich, trugen Sonnenbrillen, standen vor allen Eingängen.

Zusammen mit einer Bekannten am Kontrollpunkt: Ihre im Internet gekaufte Karte erweist sich als billige Fotokopie. Sie wird eine halbe Stunde von zwei Ordnern vernommen. Fälschung und versuchter Betrug werden ihr vorgeworfen, lautstark Personalien gefordert. Was nun? Herzklopfen, Aufregung, empörte Dementis. Hellhörigkeit mittlerweile auch bei den Sicherheitskollegen, die nebenan unspektakulär Bändchen aushändigen. Die Beschuldigte soll zur Polizei. Nach einem Kontrollanruf im Pressezelt wird sie aus dem Verhör entlassen, da bricht sie aber schon unter Tränen zusammen.

„16 Stunden Arbeit, vier Stunden Schlaf, 14 Stunden Arbeit.“ Das sind zwei Tage im Leben von Stephan P., der das V.I.P.-Zelt bewacht. Herzklopfen hat er ab und zu, sagt er. Etwa, wenn jemand betrunken und unberechenbar Zugang zum Backstagebereich verlangt. Dann macht er sich ein bisschen größer und diskutiert eine Minute, um das Gegenüber nicht aufzuwiegeln. „Manchmal muss man kulant sein“ meint eine anderer Sicherheitsbeauftragter zwinkernd, „die meisten sehen doch alles doppelt.“

Beim Auftritt der Berliner Beatsteaks verletzen sich zwölf, drei müssen ins Krankenhaus: Die Konzerte, sagt Jörg C., sind die schwierigsten Aufgaben. Wenn Rammstein spielen, werden ohne Unterlass Fans aus der Menge getragen: „Eine Hälfte Mädels, ohnmächtig oder sonst bedrückt, die andere Hälfte Jungs, die sich auf Händen raustragen ließen.“ Von den Konzerten selbst bekommt er nicht viel mit. Man sieht ihn und Kollegen vor der Bühne nur still zusammenzucken, als Rammstein Feuer und Flamme gen Himmelszelt brennen. Was der Fan nicht darf, dem Tier wird es gestattet: Eine Taube spaziert auf der Bühne, umrundet einmal die Band und flattert fort.

Nachts darauf brennen Zelte und Pavillons auf dem Campingplatz. Bei Morgenanbruch kommt Polizei, befragt Verschlafene in Unterhose und Gruftis, die sich gleichzeitig die Zähne putzten und das Frühstücksbier tranken. Noch längst ist der Sonenaufgangskater nicht dem nächsten Rausch gewichen. Überforderung zeichnet die Gesichter der Zeugen. Andere wieder flankieren trunken jubelnd die Polizeiaktion und unterstreichen jede Frage der Beamten mit Anfeuerungsrufen.

Auf Fernsehteams, die den sonntagmorgendlichen Besucheransturm aufs Festivalgelände filmen wollen, wird gewartet. Die Männer in Rosa und Schwarz lassen niemanden durch, bis die Kameras da sind. Dann rauschen die Leute nur umso krachender hinein: Das kommt gut im Fernsehen. Aber es nutzt auch kaum jemand aus der ungeduldig mit den Hufen scharrenden Menge die Gelegenheit, nebenan, vor den Absperrungen, den Open-Air-Gospel-Gottesdienst des AK Missionarische Dienste zu besuchen. Hat Sakro-Pop den keine Freunde mehr? Oder schreckt sie das „Jesus Loves You“-Banner ab? Im Kirchenzelt wird, unter Leitung eines bebrillten Gitarristen, der Herr angerufen, denn siehe: „Menschen auf der Schnellstraße zur Hölle haben vieles gemeinsam“. Sie sagen laut Dinge wie „Ich sündige gern... huch!“, „Gepriesen sei Allah!“ oder „Ich habe schon seit Jahren eine Affäre.“ Die meisten von ihnen sagten allerdings nichts, sondern trollten sich Richtung Blue Stage oder Richtung Green Stage und trollten sich immer so fort, bis der Montagmorgen anbrach und sie wieder an Mühsal, Arbeit und Alltag gemahnte. Robert Best