Wer kann, geht weg aus Mingo

aus Williamson MICHAEL STRECK

Nach langer Autofahrt über die nicht hohen, aber zerklüfteten Appalachen Richtung Südwesten durch schmale, bewaldete Täler, vorbei an rostigen Kohlefördertürmen und abgeschiedenen Ortschaften zeigt das Mobiltelefon plötzlich wieder Empfang. Fremde und Bewohner gleichermaßen erkennen darin ein Signal, dass hier, im Landkreis Mingo im hinterwäldlerischen „Hillbilly-Country“ an der Grenze zwischen West Virginia und Kentucky, Fortschritt und bessere Zeiten vielleicht doch noch möglich sind.

Das einst prosperierende Kohlerevier der Appalachen erlebt seit Jahrzehnten einen Exodus. Zwischen 1990 und 2000 schrumpfte die Bevölkerung – je nach Landkreis – zwischen 15 und 25 Prozent. Allein Nostalgiker des Eisenbahnzeitalters verirren sich hierher, beobachten kilometerlange Kohlezüge, wie sie sich durch die schroffen Täler winden und Steigungen hinaufächzen. Vor dem 5.000-Einwohner-Ort Williamson, dem Hauptort von Mingo County, kommen sie dann nach einer scharfen Kurve scheinbar aus einer Felswand gefahren, um einige Kilometer weiter in einem Güterbahnhof abgestellt zu werden.

Kohle macht arm

Im Halbstundentakt rattern die Züge mitten durch die ausgestorbene Stadt. West Virginia fördert so viel Kohle wie nie zuvor. Vergessen scheint der Niedergang der Industrie in den 80er- und 90er-Jahren. Der Energiehunger Amerikas lässt die Zechen wieder brummen. Doch modernste Fördertechnik benötigt kaum noch Kohlekumpel. Wer kann, verlässt Williamson.

Die Straßenzüge in Downtown, in denen manche Fassaden noch einen bescheidenen Glanz aus den Hochzeiten der Kohleindustrie erahnen lassen, sind verwaist. Ein Laden, der Waffen und Gitarren verkauft, vier Friseure, einige Anwaltskanzleien und Arztpraxen halten die Stellung. Einzelhandel beschränkt sich auf zwei Geschäfte – vorzugsweise mit Ramschware. Tom Parrett, der seit 35 Jahren im selben kargen Salon mit einem museumsreifen Frisierstuhl und Waschbecken die Haare schneidet, erzählt, dass die Flut von 1977 der bereits sterbenden Stadt den Todesstoß versetzt hat. Eine Schülerin, die im einzigen Restaurant in der Innenstadt jobbt, verzieht das Gesicht bei der Frage, wie es sich in Williamson so lebt. „Ich will hier weg, je früher, desto besser.“

Hoffnung findet sich am Ende eines lang gestreckten Tales, neben verlassenen Holzhäusern und grasüberwucherten Bahngleisen in einer flachen Fertigteil-Baracke. Hier residiert die „Mingo Redevelopment Authority“. Ihr Ziel ist es, die lokale Wirtschaft zu diversifizieren. Direktor Mike Whitt, der selbst zwölf Jahre im Bergbau schuftete, um sich Geld für die Universität zu verdienen, dann später Lehrer und Abgeordneter im Landesparlament von West Virginia wurde, will den Bewohnern hier Gründe zum Bleiben geben. Der 53-Jährige ist Pädagoge und hat nie ein Ausbildung in Betriebswirtschaft absolviert. „Sie brauchten jemand, der beides kann: sich eine Krawatte umbinden, um mit Politikern in Washington zu reden, und sich die Jeans überziehen, um durch Baustellenschlamm zu laufen.“

Der größte Entwicklungshindernis ist hier die Geografie, erzählt der kleine, lebhafte Mann. Es gibt kaum ebene und überflutungssichere Flächen, wo sich Unternehmen ansiedeln könnten. Banken würden keine Kredite gewähren, wenn dies nicht abgesichert sei. Eine der wichtigsten Aufgaben ist es daher, gemeinsam mit Bergbaufirmen, Landeigentümern und der Kommune geeignete Ansiedlungsflächen zu schaffen.

Ohne lokales Engagement läuft hier jedoch nichts, sagt Whitt. Die Landesregierung werde nur aktiv und vergebe Fördermittel, wenn private Investoren den gleichen Betrag aufbringen. Nach einem risikoreichen und holprigen Start vor 15 Jahren mit 70.000 Dollar Anschubfinanzierung von einer Stiftung hat Whitt es geschafft, jeden staatlichen Dollar mit sechs Dollar aus privaten Taschen gegenzufinanzieren: „Wir kommen nun mit vollen statt mit leeren Händen.“

Im sterilen Flur hängen große Farbfotos von erfolgreichen Projekten. Obstplantagen auf Abraumhalden, Fischfarmen in Becken mit abgepumptem Stollenwasser, ein Motorsport-Areal, eine Fensterfabrik und Überflutungsschutz für Wohnsiedlungen. In zehn Jahren hat der Drei-Mann-Betrieb dreihundert Jobs geschaffen und 60 Millionen Dollar Investitionen in die Region gelockt.

Whitts Perspektive sind jedoch Jahrzehnte. „Ich mache das für meine Enkelkinder. Meine Generation wird die Früchte nicht mehr ernten können.“ Er hofft – sicher ist er sich nicht –, dass es für die Region noch nicht zu spät ist. „Hätten wir einige Jahre länger gewartet, hätten wir die Kurve wahrscheinlich nicht mehr gekriegt.“

Berufsoptimist ist auch Cecil Hatfield von der örtlichen Handelskammer. Sein Büro befindet sich in einem aus schwarzem Kohlestein gebauten Gebäude, das wie eine neugotischen Kirche aussieht. Sicher, die Bevölkerung wird weiter zurückgehen, sagt er, vielleicht nicht so dramatisch. Doch den stämmigen und rüstigen 73-Jährigen, der sich noch an einen toten Fluss und rußgeschwärzten Regen erinnert, kann nicht mehr viel erschüttern. Bis Anfang der 90er-Jahre gab es keine Abfallbeseitigung und Wasseraufbereitung. Heute fließen immerhin 50 Prozent des Brauchwassers durch Kläranlagen. Im Fluss gibt es wieder Fische. 80 Prozent der Haushalte sind an das öffentliche Wasserversorgungsnetz angeschlossen. Und den Müll entsorgt eine private Firma aus dem Ort.

Krämer in den Appalachen

Doch Williamson ist zu stark geschrumpft, um sich eine funktionierende Versorgungsinfrastruktur, eigene Polizei und Feuerwehr leisten zu können. Die Stadtkasse wird aus der lokalen Eigentums- und Bodensteuer gefüllt. Abwanderung und der damit einhergehende stetige Wertverlust lassen diese Einnahmequelle jedoch unaufhörlich sinken. Langfristig sieht Hatfield nur eine Chance, die Kräfte mit anderen Kommunen in der Region zu bündeln. Allerdings ist die Idee des Regionalismus hier noch sehr unterentwickelt, klagt er. „Die abgeschottete Bergwelt hat auch eine verengte Perspektive und Kleinkrämer-Mentalität mit sich gebracht.“

Wenn Hatfield über Zukunftschancen spricht, jongliert er gerne mit den von Regionalplanern gebrauchten Begriff „Cluster“, also Wachstumszentren. Doch auch er muss einräumen, dass die Bedingungen für solche Zentren – gute Verkehrsanbindung, qualifiziertes Humankapital, Hochschulen – hier kaum gegeben sind. Außerdem zieht die anderthalb Autostunden entfernte Landeshauptstadt Charleston den Löwenanteil wirtschaftlicher Entwicklung an. Wenn er dann alle Möglichkeiten durchs Sieb kippt, bleibt am Ende als einzig hoffnungsvolles Zugpferd nur der Tourismus, insbesondere Motorsport. Der wächst in den USA jährlich mit zweistelligen Zuwachsraten und West Virginia ist unter den Freunden von Querfeldeinrennen längst kein Geheimtipp mehr. Hatfield setzt daher auf Whitt, dessen Agentur derzeit ein riesiges Areal für Cross-Country-Rennen erschließt, das ab nächstem Jahr einen Strom von Besuchern anlocken soll.

Dieses optimistische Szenario wird in der Staatshauptstadt nicht geteilt. Im Wirtschaftsministerium in Charleston erwartet niemand einen dramatischen Wandel für die Region. Stephen Spence, der in dem stalinistisch anmutenden Bau das Büro für Wirtschaftsförderung leitet, setzt auf gezielte Hilfe für jene kleinen und mittelständischen Firmen, die in der Lage sind, auf dem Weltmarkt zu operieren oder für ausländisches Kapital attraktiv sind. Stolz zeigt er auf eine Karte des Bundesstaates, auf der für jede ausländische Investition ein Fähnchen zu sehen ist. Sie scharen sich um drei „Cluster“. Der Raum Williamson ist nicht dabei. „Ehrlich gesagt, der Ausblick dort ist düster.“

Lieber Mingo als Arizona

Dennoch kehren Leute zurück. Wie die 35-jährige Frau, die in der Kneipe mit dem mutmachenden Namen „Starter“ als Kellnerin arbeitet. Nebenbei, bis ihre kürzlich eröffnete Massagepraxis richtig läuft. Nach der Schule verließ sie die Stadt, um in Phoenix, Arizona ihr Glück zu suchen. Doch Hitze, endlose, anonyme Suburbs in der Halbwüste und verstopfte Highways ließen irgendwann die Freude am Dauersonnenschein verblassen. Hier kennt jeder jeden, können ihre Kinder ungestört im Wald herumtoben und zu Fuß zur Schule gehen. Im Motel um die Ecke steigen neuerdings immer öfter dreckbeschmierte Männer mit Motorrädern oder Geländewagen ab. Für sie ein Hinweis, dass es aufwärts geht. Doch das untrüglichste Zeichen ist der riesige Antennenmast, der vom höchsten Berg hier die Stadt überragt und Williamson mit der digitalen Mobilfunkwelt verbindet. „Es mag lächerlich klingen, aber für uns war das ein Wahnsinnssprung in die Zukunft.“