Peter Grohmann
: Hipp, hipp, Hippokrates

Der Zustand der Gefangenen ist geschwächt, raunt es sorgenvoll in den Medien. Wir leiden mit – wir kennen Hunger aus eigenen entbehrungsreichen Zeiten, wissen um die Wirkungsmacht von Streik, ja gar Hungerstreik! Nun sind gar deutsche Ärzte an den Ort des Geschehens geeilt, begleitet von aufmerksamen Journalisten, sind vor Ort, vielleicht als Retter in der größten Not?

Die Kommentare angemessen, nichts Aufgeregtes, es könnte der guten Sache schaden. Nein, keine Angst, sie sind nicht vor den Toren von Guantánamo, nicht in den Folterkammern von Kandahar, nicht bei Assad, da ist ja schon Siemens, und auch nicht in Russland, da ist ja schon Schröder. Hier geht’s um Julija Timoschenko, Liebling der Medien, Freiheitskämpferin, Jeanne d’Arc, die sich in alten Zeiten durch eigener Hände Arbeit rasch ein Vermögen von mehreren hundert Millionen Dollar erarbeitete und die Aufmerksamkeit der Welt braucht.

Ja, die Welt sorgt sich, die EU-Kommission sorgt sich, überlegt sich sogar, ob sie auf die Teilnahme an den Europameisterschaften verzichten soll, will sich das aber doch noch einmal überlegen. Auch Hillary Clinton ist besorgt, Angela Merkel ist besorgt, Guido Westerwelle ist besorgt, und nun sind sogar die drei Kanzlerkandidaten der SPD besorgt, sogar tief, sehr tief.

Diese unsere Sorgen, die Sorgen der freien Welt, gelten zeitgleich auch dem blinden Bürgerrechtler Chen Guangscheng, der wieder und wieder von seinem Kind durch seine dürftige Wohnung in Peking geführt wird, wie uns die aktuelle Kamera zeigt. Ein Stoff für Simmel, blind und barfuß durch die rote Hölle, vom Schicksal geschlagen, fiel er erst auf die Amis, dann auf die Rotchinesen herein. Ein schwarzer Tag für die Freiheit, titelten sich die Außen- und Innenminister zu.

Wahr ist aber auch, ob im Springerhochhaus, bei Murdochs, im Kanzleramt, im Oral Office oder bei Schröders hinterm Sofa: Die Damen und Herren interessieren sich einen feuchten Kehricht für die Menschenrechte, dazu fehlt ihnen beim Wandel durch Handel schlicht die Zeit.

Das Schicksal einer Timoschenko oder eines blinden Bürgerrechtlers ist für die Medien in aller Regel nur deshalb interessant, weil die Gedemütigten und Gefolterten vielleicht eines Tages für ein Pressefoto zur Verfügung stehen könnten – da muss man rechtzeitig vorher dabei sein und sich das Copyright sichern.

Irgendwann könnten dann einmal Angela und Julija, Hand in Hand, oder Barack Obama gemeinsam mit Chen vor die Presse treten, mit feuchten Augen, vielleicht sogar rechtzeitig vor den Präsidentschaftswahlen. Am schönsten fände ich ein Foto-Shooting in Guantánamo. Und dezent im Hintergrund die deutschen Ärzte, lässig gestützt auf das scharfe Schwert des Hippokrates, oder wie immer der Kerl heißen mag.

Peter Grohmann, Kabarettist, ist Gründer des Bürgerprojekts Die AnStifter.