„Wenn Demokratien töten“

Als Nato-Mitglied ist Deutschland mitverantwortlich für ein Bombardement in Serbien, sagt der Bonner Ex-Abgeordnete Hans Wallow. In Köln wird heute über die Klage der Opfer entschieden

INTERVIEW: DIRK ECKERT
UND PASCAL BEUCKER

taz: Heute wird der 7. Senat des Oberlandesgerichts Köln sein Urteil im Rechtsstreit der Bürger von Varvarin gegen die Bundesrepublik Deutschland fällen. Wie wird die Entscheidung ausfallen, Herr Wallow?

Hans Wallow: Ich befürchte, dass die Klage der Angehörigen der Opfer des Bombenangriffs auf die Brücke von Varvarin erneut abgewiesen wird. Wünschen würde ich mir natürlich, dass die 35 jugoslawischen Kläger Recht bekämen. Denn wenn Demokratien Krieg führen und dabei Unschuldige töten, dann müssen sie sich auch anschließend wie Demokratien verhalten: Es muss aufgeklärt werden, was da passiert ist, und die Menschen müssen entschädigt werden. Die Bundesrepublik war an diesem Krieg aktiv beteiligt, also trägt sie auch eine Mitverantwortung. Immerhin hat der Kölner Richter Fragen gestellt, die auf einen Willen zur Aufklärung hindeuten.

Sie haben den Fall Varvarin recherchiert. Wie ist es am 30. Mai 1999 zu der Bombardierung der Eisenbahnbrücke von Varvarin gekommen, bei der zehn Menschen ihr Leben verloren haben, dreißig verletzt wurden?

Die militärische Zerstörungsindustrie der Nato im Krieg gegen Jugoslawien arbeitete hochgradig arbeitsteilig. Die Deutschen waren mit vierzehn Tornados beteiligt, sechs davon hatten die Aufgabe ganz vorn die gegnerische Raketenabwehr auszuschalten. Die anderen hatten potentielle Ziele zu fotografieren. Die deutschen Tornados flogen 46 Missionen, eines der aufgeklärten Ziele war die „Highway-Bridge Varvarin“. So war es auf der Nato-Karte eingezeichnet. Aber diese Brücke gab es in dem Ort gar nicht. Wahrscheinlich war eine Autobahnbrücke in der Nähe gemeint. Diese 15 Kilometer entfernte Autobahn führt tatsächlich direkt in den Kosovo. Allerdings ist die bis über das Kriegsende hinaus heil geblieben. Stattdessen bombardierten zwei Kampfjets der Nato die altersschwache Eisenbahnbrücke von Varvarin.

Warum?

Unmittelbar nach der Feststellung, dass man dort ein rein ziviles Ziel bombardiert hat, sagte der deutsche Presseoffizier, das seien Piloten gewesen, die ihr Ziel wohl nicht gefunden hätten. Und nach meiner Kenntnis vor Ort stimmt das.

Sie gehen also von einem mörderischen Irrtum aus?

Ich gehe davon aus, dass es sich um das gehandelt hat, was die Militärs verniedlichend einen „Fehlwurf“ nennen. Die Piloten nennen ihre Bombardierungen übrigens „Licht anmachen“.

Wie sind Sie überhaupt auf den Fall Varvarin gekommen?

Ich habe als Bundestagsabgeordneter am 16. Oktober 1998 mit über die Beteiligung der Bundesrepublik an dem Krieg gegen Jugoslawien abgestimmt. Ich habe damals nicht dagegen gestimmt. Auch wenn ich der Propaganda für diesen angeblichen „humanitären Einsatz“ von vorne herein nicht so recht glaubte, habe ich mich nur der Stimme enthalten. Als vor dem Bonner Landgericht dann das erste Mal über Varvarin verhandelt wurde, bin ich in die Gerichtsverhandlung gegangen, um zu hören, was das für Auswirkungen hat, wenn ich eine politische Entscheidung im Parlament treffe.

Und was haben Sie gehört?

Was in dieser jugoslawischen Kleinstadt mit ihren 4.000 Einwohnern, rund 200 Kilometer vom Kosovo und 180 Kilometer von Belgrad entfernt, passiert ist, hat mich stark berührt. Denn an diesem Fall lässt sich auch exemplarisch erkennen, welche nicht nur materiellen, sondern auch seelischen Schäden ein solcher Krieg erzeugt.

Obwohl Sie der Kriegspropaganda nicht getraut haben, haben Sie nicht gegen den Krieg gestimmt?

Ich bin kein Pazifist. So finde ich das Nichteingreifen in Kambodscha oder in Ruanda immer noch als eine Tragödie. Bei wirklich nachgewiesenem Völkermord bin ich dafür, dass man eingreift. Ich hatte von Anfang an meine erheblichen Zweifel, ob ein solcher Fall im Kosovo vorliegt – aber ich habe auch die Bilder von den Flüchtlingstrecks aus dem Kosovo im Fernsehen gesehen, habe die Legenden von der ethnischen Säuberung gehört. Das hat bei mir persönlich zu einer Bereitschaft der Hilfe geführt. An der Verhältnismäßigkeit der Mittel hatte ich jedoch ganz große Zweifel, deswegen habe ich mich der Stimme enthalten. Doch nach dem, was ich heute weiß, war auch das ein schwerer Fehler. Aber damals hatte ich diese Information nicht. Wir sind einer Propagandalüge aufgesessen, mit fatalen Folgen.

Wie erklären Sie sich, dass sich trotzdem heute niemand mehr für den Jugoslawien-Krieg zu interessieren scheint?

Das ist Verdrängung. Natürlich ist es ein unangenehmes Gefühl, über die Folgen dieses Angriffskrieges diskutieren zu müssen. Denn das Blutbad von Varvarin ist nur ein schrecklicher Fall von vielen. Es sind unzählige nicht-militärische Ziele bombardiert worden, darunter auch Krankenhäuser. Man rechnet ungefähr, dass 1.000 Zivilisten bei diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg umgekommen sind. Auch die deutschen Militärs haben immerhin über 400 Raketen verschossen – nicht auf Rebhühner, sondern auch auf Menschen. Kein deutscher Fernsehsender hat darüber bisher eine Dokumentation produziert. Damit möchte man sich lieber nicht beschäftigen. Solche Dinge werden leider wahnsinnig schnell verdrängt – was die Gefahr der Wiederholung in sich birgt. Da sollte man sich auch durch die deutsche Nichtbeteiligung am Irak-Krieg nicht täuschen lassen.