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: HELMUT HÖGE über die unerforschte Welt der Sirenen

Zwischen Sängerinnen und Seekühen

„Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe, das ist ihr Schweigen, ihm kann sich keiner entziehen“, behauptete Kafka. Der Berliner Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler wollte es genau wissen und organisierte eine Expedition in die Gewässer um Capri, die Insel der Sirenen, wo Odysseus sich einst mutig ihrem Gesang ausgesetzt hatte. Nach einer der drei Sirenen, Parthenope, wurde später das heutige Neapel benannt.

Kittler brachte von seiner Kreuzfahrt zwischen Messina und Neapel jede Menge audiovisuelles Material mit, das er auch bereits vorführte. Trotzdem ist seine Sirenenforschung noch unbefriedigend. Ich erhoffte mir Aufklärung aus der einst von dem Biologen Anton Dohrn gegründeten Meeresforschungsstation in Neapel. Aber die einzige dort jemals in einem Aquarium gehaltene „Sirenide“ gibt es nicht mehr: Wie der faschistische Theoretiker Curzio Malaparte in seinem Buch „Haut“ berichtet, wurde dieser „Fisch“, wie alle anderen in Dohrns Aquarien auch, 1944 vom Oberkommando der amerikanischen Streitkräfte, die Neapel eingenommen hatten, getötet – um anschließend von ihnen verspeist zu werden.

Weil aber dieses „zur Gattung der Sirenoiden“ gehörende Meerestier einem kleinen toten Mädchen zum Verwechseln ähnlich sah, habe einer der anwesenden weiblichen US-Offiziere darauf bestanden, den „Fisch“ stattdessen ordnungsgemäß im Garten zu bestatten. Es geht das Gerücht, dass er/sie später wieder ausgegraben wurde und dass das Skelett sich heute im „Museo di Biologia Marina e Paleontologia“ von Reggio Calabria befindet.

Für die Amerikaner sind die Sirenen das, was wir „Seekühe“ nennen: Pflanzen fressende Meeressäugetiere, die es nur noch in tropischen Gewässern gibt. Es gab auch noch welche in den sibirischen Gewässern: Sie wurden aber – nur 27 Jahre nach ihrer Entdeckung – ihres schmackhaften Fleisches wegen ausgerottet. Die einen wie die anderen Seekühe sehen jedoch weder wie die auf antiken Vasen dargestellten Sirenen aus, noch singen sie wie von Homer geschildert.

Das gilt auch für die bis zu einen Meter langen Arten der Gattung „Siren“, die man auf Deutsch treffend „große Armmolche“ nennt, weil sie nur Vorderbeine haben, dazu Lungen und Kiemen. Sie gehören zur Familie der „Sirenidae“, leben an der Küste Floridas, ernähren sich von Kleingetier und Pflanzen und halten Sommerschlaf. Bei dem von Malaparte beschriebenen „Speisefisch“ aus der „Zoologischen Station“ von Neapel könnte es sich eventuell um einen solchen „Schwanzlurch“ gehandelt haben.

Dann ist er aber nicht mit dem Skelett im Museum von Reggio Calabria identisch. Diese „Sirene“ weist eher auf den dänischen Anatomen Caspar Bartholin zurück, der vor mehr als 200 Jahren die Wassernixen (auch Meerjungfrauen, Nymphen, „Loreley“ oder „Undine“ genannt) zusammen mit den Menschen als „Homo marinus“ klassifizierte.

Ich wollte es schon bei diesem Stand der Dinge bewenden lassen. Aber dann bekam ich eine Einladung zur „Langen Nacht der Wissenschaft“ – vom „Kulturverlag Kadmos“, der während der „Langen Nacht“ einen Buchverkaufsstand im Medizinhistorischen Museum auf dem Charité-Gelände aufgebaut hatte und zwar „neben den Sirenen und Zyklopen“. Es handelte sich dabei um tote Kinder, das heißt um in Spiritus eingelegte „menschliche Fehlbildungen“: Bei der einen – „sirenoiden“ – fehlten „die Beinanlagen, der Harntrakt und die Geschlechtsorgane“. Der Körper ging stattdessen ab der Hüfte in eine Art Schwanz über. Der anderen – „Sirenomelie“ – fehlten „Beine, Geschlechtsorgane, Niere, Blase und Enddarm“. Beide waren also nicht lebensfähig.

Wenn ich nicht irre, befanden sich die Exponate früher in der Anomaliensammlung auf dem Gelände des Veterinärmedizinischen Instituts der Humboldt-Uni und wurden erst kürzlich in das neue Medizinhistorische Museum überführt. Für die zwei „sirenoiden Fehlbildungen“ machen die Kuratoren einen „übermäßigen Alkoholgenuss der Mütter“ verantwortlich, d. h., wir werden es mit zunehmendem Abbau des Sozialstaats also bald auch mit immer mehr nicht lebensfähigen kleinen „Sirenen“ zu tun bekommen, aber das hilft weder mir – bei der Klärung, um was es sich bei dem Malaparte’schen „Speisefisch“ in Neapel nun wirklich gehandelt hat – noch Professor Kittler – bei seiner multimedial angelegten Sirenenforschung um Capri herum.