Gottesmörder und Brunnenvergifter

Tilman Tarach untersucht die Bedeutung des christlich geprägten Judenhasses auf den modernen Antisemitismus

Von Klaus Hillenbrand

Eine rechteckige weiße Tafel, darauf sieben Worte in Fraktur: „Der Vater der Juden ist der Teufel“, steht da mit Verweis auf Jesus Christus geschrieben, unterzeichnet von der NSDAP-­Ortsgruppe Eschenbach in Franken.

Das Bild mit den Köpfen einer Kinderschar im Vordergrund bildet den Titel des Buchs von Tilman Tarach. „Teuflische Allmacht“, so der Titel, imaginiert freilich nicht einen Wahrheitsgehalt hinter der Aussage des Fotos, sondern das genaue Gegenteil: Der Autor untersucht, inwieweit die christlichen Wurzeln des Judenhasses bis heute den modernen Antisemitismus prägen – und kommt zu einem vernichtenden Urteil.

Sie wurden mit einem Fleck gekennzeichnet, in Ghettos gedrängt, verleumdet und verbrannt: Dass der christliche Judenhass über Jahrhunderte prägend für die Verfolgung der Juden in Mitteleuropa war, steht außer Frage. Tarach aber geht es darum nachzuweisen, dass dieser religiös geprägte Judenhass bis heute entscheidend für die Vorurteile und Handlungen gegenüber der Minderheit war. Er habe gegenüber dem modernen Antisemitismus, der Jüdinnen und Juden aufgrund einer vermeintlichen Rasse-Zugehörigkeit verfolgt, eine weitaus größere Bedeutung als allgemein angenommen, so seine These.

Der Autor findet dafür reichliche Belege, etwa im NS-Hetzblatt „Der Stürmer“. Da ist von der „teuflischen Allmacht“ der Juden die Rede, vom „Judaslohn“, den diese ein­steckten, und immer wieder von den Juden als angeblichen „Christusmördern“. „Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn“, wird aus Hitlers „Mein Kampf“ zitiert. Die NSDAP bemühte sich nach Kräften, die religiös konnotierten Bilder von den Juden als angeblichen Kreuzigern Jesus in ihrem Sinne zu aktualisieren.

Vom Fleck zum Stern

Tilman Tarach: „Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Anti­zionismus“. Edition Telok, Berlin 2022, 224 Seiten, 14,80 Euro

Wie weit diese Vorstellungen taktischer Natur waren, um in der christlich geprägten Bevölkerung Deutschlands Punkte zu sammeln, oder ob diese tatsächlich dem ­Glauben von NS-Führern entstammten, bleibt freilich eine schwer zu deutende Frage. Es ist nicht zu leugnen, dass die Nationalsozialisten bei ihrer juden­feindlichen Politik zu Mitteln griffen, die denen des mittelalterlichen Judenhasses entstammten – etwa beim „Judenstern“, einer modernen Version des Judenflecks, bei der Propaganda von den jüdischen „Gottesmördern“ oder den „Kindermördern“. Auch blieb den ­Nazis bei ihren rassistischen Vorstellungen nichts anderes übrig, als bei der für Tod oder Leben entscheidenden Frage der Abstammung auf Kirchen­bücher zurückzugreifen, also der ­religiösen Herkunft nachzugehen – weil selbst der überzeugteste Rassist keine anderen Kriterien dafür fand, wer Jude und wer nicht sein sollte. Es gibt nämlich keine.

Tarach unternimmt freilich keine Analyse des modernen, rassistisch geprägten Antisemitismus und verbaut sich damit der Möglichkeit einer vergleichenden Untersuchung. So bleiben seine Belege, so viele es auch sein mögen, zwar überzeugend. Sie werden aber nicht in den Zusammenhang gestellt.

Doch auch so zeigt Tarach zugleich überzeugend, wie stark christliche Motive den NS-Antisemitismus prägten – und weit darüber hinaus. Denn das Buch endet nicht bei den Nazis. Auch heutzutage und gerade bei Beschuldigungen gegen den Staat Israel finden die christlich begründeten Behauptungen von den „Kindermördern“ und „Brunnenvergiftern“ erneut Verwendung – und dies jetzt auch von muslimischer Seite. Die Beispiele, die Tilman Tarach anbringt, sind erschreckend, etwa wenn er Palästinenserpräsident Abbas zitiert, der von israelischen Rabbinern faselt, die verlangt hätten, das Wasser der Palästinenser zu vergiften.