berliner szenen
: Eine Million Fragen in seinem Blick

Wie jung er wohl ist? Vier oder fünf? Klein ist er und lockige Haare hat er. Eine Locke hängt ihm in die Stirn. Ganz allein steht er am Eingang des Alexa. Anscheinend weiß er nicht, wohin. Seine Trainingshose ist ihm viel zu groß und obwohl es kühl ist, trägt er nur eine dünne Jacke. Aber er scheint nicht zu frieren.

Warum wartet er nicht drinnen?

Bereits als ich vor einer halben Stunde vorbeikam, stand er dort und machte einen einsamen Eindruck auf mich. Aber ich kümmerte mich nicht darum. Ich hatte es eilig. Wie all die anderen Konsumenten, die wie ich an einem nasskalten Freitagabend ins Alexa strömen und unbedingt eine Besorgung machen müssen. Außerdem beruhigte ich mich mit dem Gedanken, dass er vermutlich auf seine Eltern wartet, die bestimmt bald auftauchen werden. Tatsächlich aber steht er noch am gleichen Platz und hat den gleichen verlorenen Ausdruck im Gesicht. Ich gehe zu ihm und frage ihn, wo seine Eltern sind. Er schaut mich nicht an. In sich gekehrt blickt an mir vorbei, als sei ich Luft. Vielleicht versteht er mich nicht. Ich gehe in die Knie und versuche es auf Englisch noch einmal. Und als das nichts fruchtet, mit meinem ehrlichsten Lächeln. Jetzt endlich nimmt er Notiz von mir. Aber er antwortet nicht, lächelt nicht zurück, schaut mich nur an. Etwas beunruhigt ihn. In seinen großen Augen lese ich eine Million Fragezeichen. Aber er sagt kein Wort. Als fehle ihm die Sprache, seine Sorgen in Worte zu fassen.

Plötzlich hellt sich sein Gesicht auf. Ohne mich zu beachten, läuft an mir vorbei. Als ich mich umdrehe, sehe ich einen größeren Jungen, der ihn in den Arm nimmt. Sie sehen sich ähnlich. Der ältere Junge gibt ihm ein Brötchen. Sie unterhalten sich aufgeregt mit Handzeichen. Beide lachen. Henning Brüns